
Blick aufs Sarganserland vor 180 Jahren


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Das Sarganserländer Regionalmuseum erhielt im Mai 2008 ein nicht alltägliches Geschenk: Nach einer langen Reise – Amerika retour! – fand eine wertvolle Ansicht des Dorfes Mels im Turm des Schlosses Sargans ihre definitive Bleibe. Das Bild wurde so 168 Jahre nach seiner Entstehung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Wertvolle Landschaftsmalerei im 19. Jahrhundert
Im Zeitalter der Digitalfotografie, der Fotobearbeitung am Computer und der ins Unendliche wachsenden Bilderflut verliert heute eine einzelne Ansicht an Wert. Fast alles scheint reproduzierbar, immer und überall sind Daten über Personen, Gebäude und Landschaften vorhanden. Vor 180 Jahren sah dies noch anders aus: Eben hatte man erstmals mit der sogenannten Daguerreotypie, einem frühen Aufnahmeverfahren, experimentiert, die Positiv-negativ-Aufnahmen erscheinen ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Innovationen kamen aus Frankreich und England – in der Schweiz sollten sie erst einige Jahrzehnte später Einzug halten.
So verwundert es nicht, dass noch in den 1840er-Jahren der Landschaftsmalerei eine bedeutende Stellung zukam. Im Sarganserland war zu dieser Zeit ein bekannter Künstler unterwegs: Franz Schmid. Er schuf Werke, die uns in eine Zeit vor der Fotografie zurückblicken lassen – mit einer Präzision, die lange mit Linse und Rollfilm mithalten konnte. Verbindet man die Darstellungen mit schriftlichen Aufzeichnungen, so lassen sich spannende Einblicke in die damaligen Dörfer gewinnen.
Franz Perret – glühender Liebhaber seiner Sarganserländer Heimat
Der ehemalige St. Galler Staats- und Stiftsarchivar Franz Albert Perret (1904–1979) arbeitete zeit seines Lebens für die Geschichte. Er setzte sich als studierter Jurist neben seiner Archiv-tätig-keit besonders für die historische Grund-lagenforschung im Sarganserland, im Fürstentum Liechtenstein und im Kanton Graubünden ein. So entstammen mehrere bis heute in Gebrauch stehende Urkundenbücher seiner Feder. Grosse Beachtung fand Franz Perret stets für die ehemalige Benediktinerabtei Pfäfers. An der Klosterkirche ist denn auch eine Gedenktafel angebracht, die an den ersten Kulturpreisträger des Sar-ganserlandes im Jahr 1965 erinnert. Für die «Geschichte der Gemeinde Mels» verfasste Franz Perret den historischen Hauptbeitrag. Perrets Publikationen wurden von Werner Vogler zusammengestellt und in der «St. Galler Kultur und Geschichte» (Bd. 8, St. Gallen 1979) veröffentlicht. Perrets Nachlass befindet sich zum grossen Teil im Stiftsarchiv St. Gallen und ist 2002 von Jean-Marc Perret ausführlich verzeichnet worden.
Die Familie Perret kommt ursprünglich aus Magland in Savoyen und gelangte aufgrund ihrer Handelstätigkeit um 1750 ins Sarganserland. 1756 erwarb der Stammvater das Melser Bürgerrecht. Das grosse Haus am Melser Dorfplatz erinnert bis heute an den wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg im 18. und 19. Jahrhundert.
Schriftliche Aufzeichnungen …
Die Gemeinde Mels wird von Hermann Alexander Berlepsch (im «Führer auf den Vereinigten Schweizerbahnen und deren Umgebungen», St. Gallen 1859) als «grosser katholischer Marktflecken, am enggeschluchteten Eingang ins Weisstannenthal» beschrieben. Es habe «eine schöne Pfarrkirche mit hohem Thurm, ein Kapuzinerkloster voran mit kleinem Thürmchen. Seit dem Brande von 1767 ist der Ort neu, die Häuser von Steinen gebaut. 3000 Einwohner beschäftigen sich vorzüglich mit Viehzucht, Land- und Weinbau, dann mit Arbeiten in den nahen Eisenschmelzen zu Plons, im Gonzenberg-werk, in der Oberlin’schen Glashütte, mit Holzflössen und grober Töpferarbeit. Zwei Brauereien versorgen fast alle Orte (…) mit gutem Bier; sonst ist Wein das vorherrschende Getränk. (…) Hochgelegen das renovirte Schloss Nidberg mit schöner Aussicht.»
Aus der gleichen Zeit stammt eine Beschreibung des Melser Hauptmanns Marin Wachter (1822–1885). Minutiös schildert er die allgemeinen Verhältnisse seines Heimatortes sowie den Zustand der Landwirtschaft Mitte des 19. Jahrhunderts («Die Gemeinde Mels. Darstellung ihrer landwirtschaftlichen Zustände», St. Gallen 1864 und Neudruck, hrsg. von Werner Vogler, Mels 1989). Es interessieren hier, im Blick auf das Bild von Franz Schmid, insbesondere Gebäude und die Lage des Dorfes. Wachter schreibt: «Gebäude finden sich in der Gemeinde Mels 1479, worunter 550 Häuser und 929 Scheunen oder Städel. In den beiden Dörfern Mels und Weisstannen (…) sind viele Häuser entweder aneinander gebaut oder doch nahe zusammen gestellt. (…) Im Dorfe Mels haben die meisten neuen Häuser Ziegelbedachung, währenddem die alten sowohl da, als auch in den Thalortschaften überhaupt, die alte übliche Schindelbedachung tragen.»
… verbunden mit zeichnerischer Präzision
Aus solchen Schilderungen ergeben sich zusammen mit den vorhandenen Bildquellen detaillierte Kenntnisse der Bau-struktur und der Topografie. Die schöne Ansicht von Franz Schmid leistet dazu einen wertvollen Beitrag. Betrachtet man sie genau, gewinnt man beispielsweise folgende Feststellungen:
• Das Dorf Mels erscheint kompakt, das «Zusammenwachsen» mit Sargans erfolgt erst hundert Jahre später, nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Quartiere Parfanna und Winkel bzw. Oberdorf sind erst zum Teil überbaut.
• Es fehlen die Eisenbahn (Linieneröffnung 1859) und alle weiteren Strassen in der Talebene.
• Der Nidberghügel ist wie seit Jahrhunderten mit Reben bepflanzt – ein Teil davon gerade neu. Es könnte sich auch um einen kleineren Erdrutsch handeln (mehr als hundert Jahre später, 1986, rutschte ein Teil des Hügels in die Seez ab).
• Die Seezbrücke, noch aus Holz erbaut, ist gut sichtbar.
• Die Pfarrkirche St. Peter und Paul von 1732 zeigt noch die unterteilten Fens-ter und steht ohne Vorhalle da. Diese wurde erst mit der Renovation 1922/23 angebaut.
• Das Oberli-Haus, ehemals im Besitz der Landammann-Familie Natsch, hat noch kein Stiegenhaus an der Südseite, wie es in den 1840er-Jahren durch den bekannten Architekten Felix Wilhelm Kubly angebaut werden sollte (vgl. Abbildung 4). Eine schöne Umfassungsmauer gehört zum Garten mit Lusthäuschen …
• Sichtbar sind weitere markante Häuser: etwa das katholische Pfarrhaus (1748 unter Abt Bonifaz Pfister von Pfäfers erbaut), das Haus auf dem -Büel (um 1840 von Joseph Guldin-Perret neu erstellt) oder das Haus Good in der Parfanna (später «Hans Heiri Nöldis»). Gut zu erkennen sind auch das Haus Perret am Platz (1764 von Claude Perret erneuert), der heutige «Schlüssel» (1811 von Joseph Decrette erstellt) und etwas im Hintergrund die Dorfkapelle von 1691. Das Rathaus am Platz, das Haus Good, war noch nicht erstellt worden – die Pläne dazu stammen von Felix Wilhelm Kubly aus dem Jahr 1842.
• Der Seez entlang steht die sog. «Untere Mühle», 1833 aus einer Eisenschmitte umgebaut. Sie war damals im Besitz der Familie Oberli.
• Im Hintergrund erkennt man das Städtchen Sargans mit seinem markanten Schloss (vgl. Abbildung 3), am Horizont ragt mächtig der Gonzen auf.

Man stellt also fest, dass der Zeichner mit grosser Sorgfalt, hoher Präzision und einem geschulten ästhetischen Blick das Melser Dorf um 1840 festgehalten hat. Er skizzierte zunächst mit Bleistift, zog die Linien mit Tusche nach und kolorierte sein Werk. So ist Franz Schmid eine Momentaufnahme gelungen, die nun das 19. mit dem 21. Jahrhundert verbindet und spannende Vergleiche anstellen lässt. Nicht von ungefähr wurde das Bild auch in die «Geschichte der Gemeinde Mels»
(herausgegeben von Paul Good, Mels 1973) als Frontispiz eingedruckt sowie in das Buch «Mels und Umgebung anno dazumal» (Red. Linus Good und Josef Tschirky, Mels 1985) aufgenommen.
Geschenk mit Weitblick
Im Einvernehmen mit Verwandten, insbesondere auch auf Vermittlung des Enkels von Franz Perret, Jean-Marc Perret aus Genf, konnte die Rückführung ins Sarganserland möglich gemacht werden. Die öffentliche Ausstellung wird eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schlagen, das Bild wird auf Interesse stossen und mit dem Zeichner Franz Schmid, dem Sammler Franz Perret und der Donatorenfamilie von Arb-Perret bekannt machen. Auch wenn die Reise lange war – im Museum Sarganserland, dem kulturellen Brennpunkt der Region zwischen Rhein und Walensee, ist Franz Schmids schönes Werk nun gut angekommen.

Grösster Zeichner
Der Zeichner des Bildes, Franz Schmid (1796–1851), entstammte einer künstlerisch begabten Familie aus dem Kanton Schwyz. Zwei Brüder verdienten sich ihr Brot ebenfalls mit der Malerei: Martin Schmid (1786–1842) arbeitete als Porträtmaler, unter anderem in Frankreich, Deutschland und Italien, David Alois Schmid (1791–1865) ist als Landschafts- und Panoramamaler, u. a. in Rapperswil, Luzern, Como und Mailand, bekannt geblieben.
Franz Schmid selbst war im 19. Jahrhundert schweizweit ein gefragter Zeichner. Er schuf zahlreiche Veduten, also wirklichkeitsgetreue Darstellungen von Landschaften oder Städten. Besonders die Panoramen – Rundblicke von höher gelegenen Punkten der Landschaft oder von Gebäuden aus – hatten es ihm angetan. Er zeichnete vom Uetliberg, Gurten, Rigi, vom Säntis oder vom Kamor aus und war nicht nur in seiner Heimat aktiv.
Auch Panoramen vom Stephansdom in Wien, vom Rathaus in Karlsruhe oder von den Tuilerien in Paris gehören zu seinen Arbeiten.
(Angaben u. a. nach HBLS, Bd. 6,
Neuenburg 1931, S. 206)