«Knapp 50 Prozent der Kinder, die im Kindergarten starten, haben Deutsch nicht als Muttersprache», sagte Stadträtin Sonja Lüthi vergangene Woche bei der Präsentation der Jahresziele 2022 des Stadtrates. Weil die fehlenden Deutschkenntnisse die Kindergärtnerinnen und Kindergärtner vor grossen Herausforderungen stelle, möchte die Stadt nun bereits vor dem Eintritt wissen, auf welchem Level sich die Kinder sprachlich befinden.
Grosse Herausforderung für Lehrpersonen
Anhand einer systematischen Erhebung können Familien, deren Kinder über keine oder geringe Deutschkenntnisse verfügen und noch keine familienergänzende Betreuung wie Tagesfamilien, Kitas oder Spielgruppenangebot nutzen, von der Stadt kontaktiert, über Spiki- und Kita-Angebote informiert und motiviert werden, diese in Anspruch zu nehmen. In diesem Jahr wird der Fragebogen erstmals den Familien in der Stadt zugestellt, deren Kinder im August 2023 in den Kindergarten eintreten. Die Informationen und der Fragebogen stehen den Eltern in elf Sprachen zur Verfügung.
«Ich war selbst erstaunt, wie viele Kinder kein Deutsch sprechen. In manchen Kindergärten sind es bis zu 70 Prozent der Kinder. Das führt dazu, dass die Lehrpersonen an ihre Grenzen kommen und auch den Kindern fällt es schwer, im Unterricht mitzumachen», so Lüthi gegenüber stgallen24.
Auch Martin Annen, Dienststellenleiter Schule und Musik der Stadt St.Gallen, bestätigt, dass etwa jedes dritte Kind im Kindergarten besonderen Entwicklungsbedarf bezüglich Deutschkenntnisse hat: «Die Kinder werden in die Regelklassen integriert und die Lehrpersonen betreiben intensiv Sprachförderung. Sie treten mit Bildungsunterschieden ihre Schullaufbahnen an, was für alle Beteiligten eine grosse Herausforderung darstellt und in einem pädagogischen Kontext kommt es immer mal vor, dass die Verantwortlichen an ihre Grenzen stossen».
Kinder oft frustriert
Eine Kindergartenlehrerin, die lieber anonym bleiben möchte, sagt gegenüber stgallen24, dass sich die Situation in den vergangenen Jahren deutlich zugespitzt hat: «Mittlerweile spricht fast jedes zweite Kind kaum Deutsch. Natürlich geben wir unser Bestes, aber wir sind kein Deutschkurs.Immer wieder kommt es zu frustrierenden Situationen, wo sich die Kinder nicht verständigen oder wir sie nicht verstehen können. Manche Kinder ziehen sich dann zurück und spielen lieber alleine. Das macht einen dann schon traurig. Viele Eltern glauben, dass es selbstverständlich ist, dass wir den Kindern Deutsch beibringen und bemühen sich deshalb nicht, es selbst vorab zu tun. Das ist meiner Meinung nach falsch, denn die mangelnden Deutschkenntnisse ziehen sich auch durch die Schulzeit und man tut dem Kind keinen Gefallen damit».
Studien würden zeigen, dass ein mangelhafter Spracherwerb, insbesondere der Muttersprache, als Kleinkind für eine Bildungslaufbahn sehr belastend sei. «Spracherwerbsschwierigkeiten haben in der Schullaufbahn häufig Folgen und fordern Kinder, Eltern und Lehrpersonen heraus. Die Schulleitungen sind diesbezüglich im Gespräch mit den zwei Abteilungsleitungen Schulen», sagt Annen.
Alle Familien erreichen
Mit der Sprachkontakterhebung möchte man nun so viele Eltern wie möglich erreichen. Die Erfahrungen in anderen Städten mit solchen Modellen seien sehr positiv. Bisher hat die Stadt St.Gallen über Spielgruppen und Kindertagesstätten über 70 Prozent der dreijährigen Kinder erreicht. Wenn mit der Sprachkontakterhebung künftig noch mehr Kinder erreicht werden, sei das laut das Martin Annen sehr erfreulich. Sprachförderung im Rahmen der Frühen Förderung sei ein wichtiger Beitrag zur Erhöhung von Bildungschancen.
Auch Stadträtin Sonja Lüthi erhofft sich mit der ergriffenen Massnahme, die Situation für Eltern, Lehrpersonen und Kinder zu entschärfen. «Es ist wichtig, dass wir alle Familien erreichen. In anderen Städten wird sogar an den Türen geklingelt, um auf das Angebot aufmerksam zu machen. Das ist derzeit noch kein Thema in St.Gallen.»
Die Kosten für Spiki- und Kita-Angebote werden von der Stadt in Abhängigkeit des Einkommens der Eltern subventioniert. Den verbleibenden Anteil müssen Eltern selbst tragen.