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Walensee
12.03.2022
11.03.2022 11:19 Uhr

«Oh Walesee, oh Qualesee»

Die Betonstrasse bei Unterterzen. Gut sichtbar sind die markanten Radstreifen.
Die Betonstrasse bei Unterterzen. Gut sichtbar sind die markanten Radstreifen. Bild: TP
Im November 1987 verschwand das berühmteste Nadelöhr der Schweiz.* (Felix Hartmann, Terra plana, Dezember 2012)
«Terra plana» – die Zeitschrift für Kultur, Geschichte, Tourismus und Wirtschaft Bild: Terra plana
Bild: TP

Am 27. November 1987 wurde die durchgehende Walensee-Autobahn von Bundesrat Leon Schlumpf feierlich eröffnet. Die betroffenen Anwohner und die Automobilisten konnten endlich aufatmen. Sofort nach der Inbetriebnahme dieser wichtigen Verbindungsstrasse blieb der in ganz Europa bekannte Verkehrsstau aus. Das Chanson von Toni Vescoli mit dem Text «Jetz hock’i fescht – mit mir no meh – uf dr Strass am Walesee» und das Lied vom Trio Eugster «Oh Wa-le-see, für mängä bisch en Qualesee» von 1973 hatten ihre Aktualität verloren. Die Lebensqualität für die Anwohner am linken Seeufer hat sich seit dieser Eröffnung deutlich verbessert, denn die kilometerlangen Blechlawinen gehören der Vergangenheit an. Es gibt deutlich weniger Lärm und Abgase, und für die Fussgänger ist es leichter geworden, die Strasse zu überqueren.

Die lange Geschichte der Walenseestrasse

Die Nord-Süd-Verbindung durch das Walenseebecken ist von europäischer Bedeutung. Sie ist nach der Gotthard-route die zweitwichtigste Achse in den Süden. Verkehrstechnisch stellte der Walensee seit der Antike eine grosse Herausforderung dar. Während Jahrhunderten war der Seeweg die schnellste Verbindung. Erst die Eröffnung der durchgehenden Bahnlinie am Walensee im Jahre 1859 führte zum Zusammenbruch der Schifffahrt. In nur knapp drei Jahren wurde die Walensee-Eisenbahnstrecke mit neun Tunnels gebaut. Mit diesem damals neuen Verkehrsmittel war es einfacher und bequemer, Personen und Güter zu transportieren.

Im Jahre 1826 gründeten einige visionäre Männer in Glarus einen Verein für die Erstellung einer durchgängigen Walensee-Talstrasse, auf der auch die Postkutsche verkehren konnte. Die St. Galler Regierungsräte konnten sich mit diesem Projekt nicht anfreunden. Und zwar aus folgender Überlegung: Mit dem Aufstand im Jahre 1814 wollten sich die Sarganserländer vom Kanton St. Gallen trennen und ihr Gebiet dem Kanton Glarus anschliessen. Deshalb befürchtete die St. Galler Regierung, dass durch diese neue Strasse die Sympathien und Gefühle der Sargan-ser-länder zu Glarus wieder wachsen könnten. Im Jahre 1842 versuchten ein paar beherzte Glarner Persönlichkeiten, den Bau der Walenseestrasse wieder voranzutreiben. Deshalb luden diese Herren Vertreter der betroffenen Kantone zu Gesprächen ein.

«Ein erster Schritt zur Herstellung einer der wichtigsten und folgenreichsten Verbindungen der östlichen und der westlichen Schweiz und der Kan-tone Glarus, St. Gallen und Graubünden unter sich ist nun wieder getan, und hoffentlich wird er diesmal nicht erfolglos bleiben.» Diese Hoffnung wurde jedoch nicht erfüllt: Die Gespräche drehten sich nur um die Projekte, und der Bau kam damals nicht zustande.

  • Nationalstrasse N3, Zürich–Chur. Ansicht bei Galerie am Walensee. Bild: TP
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  • Nationalstrasse N3, Zürich–Chur. Ansicht bei Flums. Bild: TP
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  • Nationalstrasse N3, Zürich–Chur. Ansicht bei Galerie am Walensee. Bild: TP
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Täglich weniger als 20 Automobile

51 Jahre später, im Jahr 1893, finden wir im St. Galler Amtsblatt folgende Notiz: «In Sachen der Fortsetzung der Walenseestrasse von Mühlehorn nach Weesen, worüber jüngsthin zwischen Abgeordneten der Kantonsregierungen von Glarus und St. Gallen konferenzielle Verhandlungen gepflogen worden sind, richtet der Regierungsrat gemeinsam mit demjenigen des Kantons Glarus, unter specieller Hinweisung auf die militärische Bedeutung dieses Strassenprojektes, ein Gesuch an den Schweizer Bundesrat, um grundsätzliche Zuerkennung, beziehungsweise Erwirkung eines entsprechenden Bundesbeitrages.»

Leider scheinen auch diese Verhandlungen keine Früchte getragen zu haben. Vielleicht auch deshalb, weil damals noch kein unmittelbarer Handlungsbedarf für den Bau dieser Strasse bestand. Täglich dürften in diesen Jahren weniger als 20 Automobile die Walenseestrecke befahren haben.

Am 24. September 1906 erschien in der «Sarganserländischen Volkszeitung» folgender visionärer Artikel (auszugsweise): «Wie Pilze schiessen in den letzten Tagen Projekte für Neuanlagen von Strassen und Eisenbahnen im Kanton St. Gallen aus dem Boden. Mit Millionen wird um sich geworfen, als ob dieselben dem Staat hereinflögen und man nicht recht wüsste, wie man dieselben an den Mann bringen könnte. Für die Bahnstrecke Wallen-stadt¹–Buchs wird die Tunnelierung des Alviers vorgeschlagen. Viel zweckmässiger und den tatsächlichen Bedürfnissen entsprechender wäre die energische Anhandnahme der Strassenfrage zwischen Mühlehorn und Weesen, also die dringende Komplettierung der Wallenseestrasse. Am Zustandekommen derselben haben nicht bloss Mühlehorn und Weesen ein Interesse, sondern das ganze Wallensee- und Linthgebiet.»

Eine Betonstrasse von acht Metern Breite

Nach dem Ersten Weltkrieg nahm der Verkehr ständig zu. Die Sektion St. Gallen des Automobil Clubs der Schweiz beschloss deshalb am 28. September 1928, für den Bau einer durchgängigen Talstrasse zwischen Walenstadt und Weesen einzutreten. Die damaligen Planer stellten sich eine Strasse mit Gegenverkehr vor, die durch die am Ufer gelegenen Dörfer führte. Wirte, Tankwarte und verschiedene Ladenbesitzer begrüssten dieses Vorhaben. In Zusammenarbeit mit der Bundesbahn-Verwaltung, deren Infrastruktur seit 1859 schon bestand, rechneten die Initianten für diese Strasse mit Kosten von fünf bis sechs Millionen Franken und mit einer Bauzeit von 15 Monaten.

Als erfreulichen Nebeneffekt sah die Regierung die Beschäftigung der damals vielen Arbeitslosen. Endlich, aufgrund des Bundesbeschlusses vom 28. Februar 1938, erteilte die Regierung des Kantons St. Gallen dem Bauunternehmen Käppeli und weiteren Firmen den Auftrag, die Walensee-Talstrasse auf St. Galler Gebiet zu bauen. Die neue Betonstrasse verfügte über eine Breite von acht Metern. Beidseitig wurde ein rot gefärbter Radstreifen mit einer Breite von einem Meter angebaut. Es war eine anstrengende Arbeit, diese Strasse zu bauen, da der Durchgangsverkehr nicht umgeleitet werden konnte. An Spitzentagen sollen über 1000 Automobile diese Baustelle passiert haben. Die Arbeiten an diesem St. Galler Teilstück wurden im Jahre 1939 abgeschlossen.

Im Jahre 1960 wurde das Bundesgesetz über den Nationalstrassenbau in Kraft gesetzt. Am Walensee war eine Autostrasse der 3. Klasse mit Gegenverkehr geplant. Zum Glück genehmigte der Bundesrat 16 Jahre später ein Projekt, das eine vierspurige Autobahn vorsah. 1977 fiel der Startschuss für den Bau dieser im schweizerischen Strassennetz wichtigen Verbindung. Bereits am 4. Oktober 1979 wurde der erste Tunnel (Raischibe) durchschlagen. Im April 1986 wurde der Kerenzer-bergtunnel auf Glarner Seite fertiggestellt. Die zweispurige Autostrasse von 1963 wurde nun in die neue, vierspurige Autobahn integriert. Deshalb liegen die richtungsgetrennten Fahrbahnen teilweise so weit auseinander. Dieses vor 25 Jahren eingeweihte Bauwerk kostete damals 600 Millionen Franken.

Café-Restaurant Walensee in Mühlehorn, im Jahre 1968 eröffnet. Seit längerer Zeit nun geschlossen. Hier die Strasse noch mit Gegenverkehr. Bild: TP

Links- oder rechtsufrig?

Nicht von Anfang an war klar, an welchem Walenseeufer die Autostrasse vorbeiführen sollte. Die Wahl des geeigneten Ufers führte zu jahrzehntelangen Diskussionen. Die meisten Projektverfasser wählten das linke Walenseeufer aus. Diese Strasse hätte durch das Städtchen Walenstadt und durch die Dörfer Mols, Unterterzen, Murg und Mühlehorn geführt. Zudem glaubten die Planer dieser Variante, die Strasse ohne die teuren Tunnels bauen zu können. Experten glaubten, dass für die rechte Variante entlang der Churfirsten 20 Tunnels erforderlich wären. Dies hätte Mehrkosten von acht Millionen Franken zur Folge gehabt.

Die Schweizerische Abteilung für Natur- und Heimatschutz bevorzugte die linke Strassenvariante. Man befürchtete, dass sonst die fast unberührte Landschaft unter den Churfirsten zerstört würde. Die Armeeführung hätte die Strasse jedoch lieber auf der rechten Seite (Churfirsten) gesehen. Die Eisenbahn und eine Strasse am selben Ufer war aus militärischer Sicht keine gute Kombination. Die ideale Lösung, aus Sicht der hohen Offiziere, wäre der Bau beider Uferstrassen gewesen.

In einem Artikel in der «Automobil Revue» finden wir zu dieser Debatte folgende Schlussfolgerungen: «Auf beiden Seiten des Walensees werden sich für den Verkehr Vor- und Nachteile ergeben. Sicher ist, dass die Unterhaltskosten im Winter auf der rechten Seeseite bedeutend geringer sein werden, doch sind Eisbildungen in den Tunnels zu befürchten. Dem Automobil müssen gute Zugangswege geschaffen und die lange Strecke von der Ostschweiz nach den graubündnerischen Fremdenzentren verkürzt werden.»

Bundesräte schleuderten

Am 6. Januar 1937 besuchten die Herren Bundesräte Marcel Pilet-Golaz, Rudolf Minger und Philipp Etter die Gegend um den Walensee, um die St. Galler und Glarner Verkehrsprobleme zu begutachten. Eine bündnerische Tageszeitung schrieb über diesen hohen Besuch: «Ein Augenschein mit Hindernissen: Bis Mollis ging die Reise ganz gut vonstatten. Dann kam der Kerenzerberg und mit ihm kamen die uns längst bekannten und immer wieder betonten Tücken der im Winter und Frühjahr stets vereisten und äusserst gefähr-lichen Strasse.

Die bundesrätlichen Automobile gerieten, trotz angelegten Ketten, in heftiges Schleudern, die Sache wurde gefährlich, und man zog es, endlich auf der Höhe angelangt, vor, die Wagen zu verlassen und die Hilfe des rasch herbeigerufenen grossen Postautos abzuwarten, dem es dank seines schweren Gewichtes und äusserst vorsichtiger Führung auch gelang, die ganze Gesellschaft wohlbehalten nach Mühlehorn und wieder zurück zu bringen.»

Mit der Eröffnung der zweispurigen Walensee-Talstrasse im Jahre 1963 verlor die gefährliche Kerenzerbergstrasse an Bedeutung.

Bundesrat Leon Schlumpf eröffnet am 27. November 1987 die neue Autobahn dem Walensee entlang. Bild: TP

Stau, Steine und  Schikanen am Walensee

Seit ihrem ersten Erscheinen im Jahre 1906 bis zur Eröffnung der vierspurigen Autobahn im Jahre 1987 kritisierte die Zeitschrift «Automobil Revue» die Zustände an der Walenseestrasse. Stets setzte sich dieses Blatt für eine freie, ungehinderte Fahrt der Automobilisten am Walensee ein. Die ersten Autofahrer wurden nämlich keineswegs nur freundlich empfangen.

So lesen wir im «Sarganserländer» im Jahre 1903 folgenden Artikel: «Ein Automobil um das andere rast daher, der Staub fliegt hoch in die Lüfte und zieht durch alle Fenster und Ritzen hinein in die Wohnungen, bestaubt die Möbel und macht die Luft unrein. Alles muss fort von der Strasse, die Kinderwagen stellt man in die Abzugsgräben, Gross und Klein flüchtet sich und stiebt auseinander, als ob ein böser Bube mit einem Stocke in einem Wespennest gewühlt hätte. Ist das Ding glücklich vorüber, so atmet man wieder leichter und denkt: Gottlob, dass uns nichts passiert ist.»

Vier Jahre später, im Jahr 1907, stand in der gleichen Zeitung folgende Notiz: «Mit dem beständig anwachsenden Automobilverkehr sind aber auch die Klagen der Wallensee-Strassen--Anwohner über Rücksichtslosigkeit, Frechheit und Anmassung ins Ungeheure gestiegen, und wenn die Wünsche der Bevölkerung am Wallensee in Erfüllung gehen könnten, so lägen alle Automobile der Welt in der Tiefe des Sees.»

Steine werfende Lausbuben

Ebenfalls im Jahre 1907 finden wir im «Sarganserländer» folgende Einsendung aus Ragaz: «Wenn nur unsere Automobilgäste weniger von Steine werfenden Lausbuben geärgert würden! Das macht sie natürlich nicht freundlicher und freigiebiger gesinnt gegen unsere Landsleute und bringt sie zu dem mehrfach gehörten Ausspruch: In Ragaz ist es wohl gut sein, aber gegen den Wallensee hinunter hat es offenbar viel ungastliche Leute.»

Diese feindliche Haltung gegenüber den Automobilisten war damals sicher nicht unbegründet. Die Walensee-Anwohner wurden 80 Jahre lang durch den Strassenverkehr gestört. Zwischen 1970 und 1987 gehörten die kilometerlangen Kolonnen und Staus am Walensee zu ihrem Alltag. Besonders an Wochenenden und Feiertagen hörte man im Radio immer wieder folgende Meldung: «Aufgrund Verkehrsüberlastung, kilometerlanger Stau vor dem Walensee.»

Wer heute die Fahrt entlang des wunderschönen Sees geniesst, mag sich vielleicht noch mit einem Schmunzeln an den Hit vom Trio Eugs-ter erinnern. Zum Glück ist heute der Walensee schon längst kein Qualensee mehr, denn wo sich früher Stossstange an Stossstange rieb, wo Flüche von Automobilisten in allen Sprachen ausgesprochen wurden, ist nun vorläufig Ruhe eingekehrt.

Bild: TP

Quellen: 

Sarganserländische Volkszeitung, div. Ausgaben
Sarganserländer, div. Ausgaben
Automobil Revue, Bern, div. Ausgaben
Glarner Nachrichten, div. Ausgaben
Der freie Rätier, 1937
Die Walensee-Talstrasse, von Dr. Arnold Ith, 1946
Kampf um die Strasse, von Dr. Theo Gubler, 1953
Nord-Süd-Autostrasse, von H.L. v. Gugelberg, 1933
Besonderer Dank geht an meine Tochter Nadine.
¹ Seit 1951 wird der Name des Städtchens Walenstadt und des Walensees offiziell nur noch mit einem «l» geschrieben.

«Dieser Beitrag ist eine gekürzte Version eines Artikels, inklusive Bilder, aus der Dezember- ausgabe 2012 der ‘Terra plana’. »
Felix Hartmann/sardona24