Home Region Schweiz/Ausland Sport Rubriken
Walensee
04.04.2022

Von der Ukraine nach Quarten und dann weiter – oder zurück

Schön und traurig zugleich: Eine Ukrainerin, die schon vor wenigen Wochen geflüchtet ist, hilft bei der Essensausgabe.
Schön und traurig zugleich: Eine Ukrainerin, die schon vor wenigen Wochen geflüchtet ist, hilft bei der Essensausgabe. Bild: Nadine Bantli
Am Sonntag sind 48 Personen aus der Ukraine im Zentrum Neu-Schönstatt in Quarten angekommen. Die ersten von ihnen sind bereits wieder abgereist – weiter zu einer Schweizer Gastfamilie oder zurück in die Heimat, in der noch immer Krieg herrscht. Initiiert und koordiniert wird die Aktion von Privatpersonen.

Um kurz nach 7 Uhr erhält einer der Köpfe der Aktion, Dennis Claes, die Nachricht, dass der Bus aus der Ukraine bald im Zentrum Neu-Schönstatt ankommen wird. Und etwas mehr als eine Stunde später ist das schliesslich auch der Fall: Nach einer anstrengenden, rund 16 Stunden dauernden Fahrt sind gestern Sonntagmorgen 48 ukrainische Frauen und Kinder, Babys sowie ein Mann im Rollstuhl nach Quarten ins Zentrum Neu-Schönstatt gebracht worden. Es ist bereits der zweite Transport, den Mario Delvecchio, Generalsekretär des 1956 in Bern gegründeten Ambassador Clubs International, in dieser Form lanciert hat.

Die Busse fahren von Lwiw aus los – eine Stadt im Westen der Ukraine, in der Russland bisher Raketen «nur» auf einen Militärstützpunkt abgefeuert hat. Anders als in den heftig bombardierten und grossflächig zerstörten Städten, aus denen die ukrainischen Frauen mit ihren Kindern ursprünglich geflüchtet sind: Sie stammen aus Mariupol, Charkiw oder der Hauptstadt Kiew. Von dort aus sind sie in den meisten Fällen mit freiwilligen Helfern – Ukrainern selbst – nach Lwiw gelangt. Nächste Woche sollen mithilfe des Ambassador Clubs International weitere Ukrainerinnen und Ukrainer nach Lugano gebracht werden, so Delvecchio.

Aus dem Schutzkeller an einen schönen Ort

Für die vorübergehende Unterbringung im «Neu-Schönstatt» und die anschliessende Verteilung der Frauen und Kinder in private Unterkünfte, in denen sie längere Zeit bleiben und nach der aufwühlenden Flucht etwas zur Ruhe kommen können, ist Claes verantwortlich. Er hat auch dafür gesorgt, dass an diesem Morgen alles bereitsteht für die ankommenden Personen. Der gebürtige Belgier wohnt mit seiner Familie in Amden und verfügt aufgrund seines Engagements bei diversen Organisationen über ein riesiges Netzwerk, von dem er in Situationen wie diesen auf physische wie auch finanzielle Unterstützung zählen kann. Das Zentrum Neu-Schönstatt ist ihm durch seine eigene frühere Tätigkeit als Leiter Rezeption gut bekannt.

Dass die Aktion nicht mit dem Kanton St. Gallen koordiniert und die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht zuerst in das Bundesasylzentrum nach Altstätten gebracht worden sind (siehe auch Kasten), erklärt Claes mit einfachen Worten: «Die Flüchtlinge mussten tage- und nächtelang in einem Schutzkeller in der Ukraine ausharren – sie sollen nun zuerst an einen schönen Ort kommen, an dem sie sich wohlfühlen können.» Die Ankunft der Flüchtlinge sei jedoch bei der Gemeinde wie auch dem Kanton angekündigt worden.

Weiterreise zur Gastfamilie

Doch nicht alle der Ankömmlinge beziehen einen Schlafplatz im «Neu-Schönstatt» – für die ersten Personen geht es nach der kurzen Verpflegungspause gleich weiter nach Bern, andere werden später an diesem Tag nach Deutschland aufbrechen. Für die dann noch verbleibenden Flüchtlinge ist Claes dabei, passende Unterkünfte bei Privatpersonen zu finden. Nicht immer, aber sehr oft ist seine Kontaktaufnahme erfolgreich: Per Videochat kommuniziert er mit den potenziellen Gastgeberinnen und Gastgebern, vermittelt ihnen nochmals kurz die wichtigsten Informationen und stellt ihnen auch ihre zukünftigen Gäste vor.

Die Vermittlung ist eine sehr emotionale Angelegenheit, bei der nicht nur Freude, sondern manchmal auch Verzweiflung und Enttäuschung mitspielen – auch in diesem Moment hoffen beispielsweise eine Tochter, Mutter und Grossmutter, ebenfalls bald eine positive Nachricht zu erhalten. Für sie einen Platz zu finden, gestaltet sich allerdings etwas schwieriger, da die älteste der drei Frauen nicht mehr gut zu Fuss ist und keine Treppen steigen kann.

In den Gesprächen betont Claes immer wieder, dass die Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingen auch mit einer gewissen Verantwortung und zeitlichem Aufwand verbunden ist, ausserdem stellt er sicher, dass die Abholung in Quarten funktioniert.

Bild: Nadine Bantli

Zurück in den Krieg, um zu helfen

Während Claes also fast ununterbrochen telefoniert, spielt sich in der Küche eine so traurige wie schöne Szene ab: Die Helferinnen und Helfer, gerade damit beschäftigt, ein einfaches Mittagessen vorzubereiten, erhalten Hilfe von den Ukrainerinnen, als wäre es selbstverständlich. Gleichzeitig wird draussen auf dem Parkplatz der Bus mit diversen Hilfsgütern, die Claes organisieren konnte und die im Zentrum vorerst nicht gebraucht werden, beladen – damit brechen die beiden ukrainischen Chauffeure bereits am Abend wieder auf nach Lwiw (Lemberg).

Wieder zurück geht es auch für einige der eben erst angekommenen Ukrainerinnen. Freiwillig wieder zurück in ein Land, in dem noch immer ein blutiger Krieg herrscht? Ja. Für sie gibt es keine andere Option, sie wollen vor Ort sein und helfen, wo sie können. Die Frauen werden dabei angetrieben vom Gedanken, dass noch immer unzählige Kinder in ihrer Heimat in dunklen Kellern sitzen, obwohl sie unbeschwert mit Freunden spielen sollten. Oder aber sie haben Brüder und Väter, die noch nie zuvor eine Waffe in den Händen hielten und nun als Soldaten ihr Land verteidigen müssen. Statt zu schlafen, denken sie an den Krieg in der Ukraine. Statt sich in Sicherheit zu wiegen, wollen sie ihrem Volk zur Seite stehen.

«Es braucht uns alle»

Es ist unfassbar, wie sehr die Ukrainerinnen und Ukrainer in diesem Krieg zusammenstehen – selbst einige von ihnen waren überrascht von dieser Verbundenheit, diesem starken Willen.

Einer, der vor drei Wochen auf eigene Faust mit seinem Kleinbus von der Schweiz an die ukrainisch-polnische Grenze gefahren ist, ist Simon Seger. Dieses Vorhaben hatte er auf Facebook öffentlich gemacht, um eine Begleitperson zu finden. Darauf aufmerksam wurde auch Claes, ein ehemaliger Kommilitone, der Seger zwar nicht begleiten konnte, der aber anderweitig helfen wollte – dort nahm die Geschichte der freiwilligen Arbeit, die Seger und Claes leisten und die mittlerweile für viele erfreuliche Schicksale verantwortlich ist, ihren eigentlichen Anfang.

«Es braucht uns alle: die Behörden, die Hilfsorganisationen und auch die Privatpersonen», so Seger. Er ist unter anderem mit dem Staatssekretariat für Migration, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und auch mit der polnischen Regierung in Kontakt. Für ihn gibt es durchaus gute Gründe, warum man die Flüchtlinge bei Privatpersonen unterbringen soll. Die Ukrainerinnen und Ukrainer würden beispielsweise weniger Gefahr laufen, in eine Negativspirale zu geraten, da sie sich in einem anderen Umfeld befinden, als es ihnen ein Asylheim bietet. Ausserdem sei das persönliche Netzwerk grösser, der Austausch einfacher. Seger ist überzeugt: Es braucht den direkten Dialog.

Aktivere Hilfe in Polen

Beweisen tut das ein junges Paar, das eine ukrainische Mutter und ihre beiden Töchter nur wenige Stunden nach Claes’ Anruf abholt: Das Paar konnte nämlich bereits Bekannte zu sich nach Hause einladen, die in einer ersten Phase übersetzen können und selber bereits ukrainische Flüchtlinge aufgenommen haben.

Mit dem Mann im Rollstuhl, der ebenfalls heute Morgen in Quarten angekommen ist, wird Seger allerdings direkt beim Bundesasylzentrum in Altstätten vorbeigehen. Dort können sich dieser und seine Frau vor Ort registrieren und darauf vertrauen, dass der Kanton oder der Bund für die notwendigen Betreuungsangebote sorgt.

Um Menschenhandel in jeglicher Form zu vermeiden, überprüfen Seger und Claes die Identität der Gastfamilien und erhalten einen ersten persönlichen Eindruck von ihnen bei der Abholung. Ihre Arbeit wird von allen Seiten unglaublich wertgeschätzt und in Umarmungen sowie Tränen ausgedrückt – doch für Seger reicht das noch nicht ganz. Er wünscht sich aktivere Hilfe der offiziellen Schweiz vor Ort in Polen – denn «die Probleme, mit denen wir uns herumschlagen, sind nicht mit den Problemen in der Ukraine zu vergleichen».

Erich Zoller verweist auf den Weg über das BAZ

Der Kanton hat an die Bevölkerung appelliert, sich mit Hilfsangeboten jeglicher Art an die zuständigen Gemeinden zu wenden und keine Direktaufnahmen zu tätigen.

von Reto Vincenz

Als Gemeindepräsident von Quarten bestätigte Erich Zoller auf Anfrage der Redaktion, dass er über die geplante Ankunft der Flüchtlinge in seiner Gemeinde von Dennis Claes unterrichtet worden ist. Wohl sei es eine gute Sache, dass die Schutzbedürftigen einen positiven ersten Eindruck von der Schweiz erhalten würden – gleichzeitig verweist Zoller, der als Vertreter der Region Sarganserland-Werdenberg im Vorstand des Trägervereins Integrationsprojekte St. Gallen (TISG) sitzt, aber auch auf die Schwierigkeiten, welche solche von privater Seite initiierten Aktionen mit sich brächten. Er schätze die Hilfsbereitschaft der Menschen, aber es sei entscheidend, dass dabei der offizielle Weg eingehalten werde, so Zoller. 

Quarten hat bereits über 20 Ukrainerinnen und Ukrainer auf dem «behördlichen Weg» aufgenommen. Zudem gebe es Gerüchte, dass sich in der Gemeinde schon jetzt weitere Flüchtlinge aufhalten würden, die nicht angemeldet seien.

Keine Direktaufnahmen tätigen

Der Kanton St. Gallen hatte erst am Freitag in einer Medienmitteilung der Staatskanzlei an die Bevölkerung appelliert, sich mit Hilfsangeboten konsequent an die Gemeinden zu wenden und keine Direktaufnahmen zu tätigen. Das Vorgehen dabei sei oft gut gemeint, aber nicht gut gemacht. Es komme schnell zu Unklarheiten, sei es in Bezug auf die Betreuung, die Finanzierung oder die Unterbringung. Wer Wohnraum (ganze freie Wohnungen und Häuser) für Flüchtlinge zur Verfügung stellen möchte, solle sich daher ausschliesslich bei der Wohngemeinde melden. Gleiches gilt für Unterstützungsangebote, sei es für Übersetzungen oder andere Einsätze.

Dieses Vorgehen sei umso wichtiger, weil in den kommenden Wochen Tausende weitere Ukrainerinnen und Ukrainer in die Schweiz kommen würden, so der Kanton. Zur Bewältigung dieser Herausforderung sei es entscheidend, dass «die Regelstrukturen funktionieren und die Gemeinden mit Sorgfalt und Übersicht vorgehen können». Wer auf eigene Faust Flüchtlinge unterbringt, wirke zwar in guter Absicht, aber diesem Ziel entgegen, so der Kanton.

Essenziell sei auch, dass sich die -geflüchteten Personen unverzüglich nach ihrer Einreise beim verantwortlichen Bundesasylzentrum (dasjenige für den Kanton St. Gallen befindet sich in Altstätten) meldeten, sich registrieren liessen und den Schutzstatus «S» beantragten. Damit sei nicht nur sichergestellt, dass die geflüchteten Personen den schweizerischen Behörden bekannt sind, Sozialhilfe erhalten oder eine Arbeit aufnehmen können, sondern dass beispielsweise auch die Krankenversicherung gewährleistet ist, heisst es in der Mitteilung des Kantons abschliessend.

Nadine Bantli/sardona24