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Walensee
23.04.2022

Edelkastanie gewinnt wieder an Boden

Eine vorbildliche Kastanienselve: Das Bienenhotel lockt die emsigen Bestäuber an, damit es möglichst viele Früchte gibt.
Eine vorbildliche Kastanienselve: Das Bienenhotel lockt die emsigen Bestäuber an, damit es möglichst viele Früchte gibt. Bild: Heidy Beyeler
Auf der Schweizer Alpennordseite gedeiht die Edelkastanie in Murg hervorragend.* (Heidy Beyeler, Terra plana, Dezember 2013)

Die Edelkastanie war wohl bereits vor dem Jahr 800 in unserem Kanton beheimatet. Als das Kloster St. Gallen gebaut wurde, waren Kastanienbäume schon im Bauplan vorgesehen. Damals galten Kastanien gar als Zahlungsmittel. Dokumente belegen, dass den Klöstern Kastanienfrüchte als Zehnten abgeliefert werden mussten. Wahrscheinlich kam die Kastanie aber schon um das 1. Jahrhundert nach Christus über die Alpen.

Es gibt Hinweise, dass seit der Zeit Karls des Grossen die Kastanie auch in Deutschland weitverbreitet war, insbesondere in Weinbaugebieten. Von der Alpennordseite her gelangte sie über die oberrheinische Tiefebene dem Rhein entlang bis nach Holland; sogar in Südengland sind heute noch Edelkastanienwälder anzutreffen.

Nahrungsmittel und Tierfutter

Im Mittelalter sollen die Maronen, wie man die Früchte der Edelkastanie (Castanea sativa) verschiedenenorts auch bezeichnet, in der Schweiz in Massen vorgekommen sein. Viele Orts- oder Flurnamen deuten darauf hin. Zum Beispiel: Kastanienbaum, Kestenholz, Chestenewald, La Chataîgne. Kastanien galten – bevor die Kartoffel aus Zentralamerika zu uns gelangte – als unentbehrliches Hauptnahrungsmittel. Sie wurden vor allem wegen ihres mannigfaltigen Nutzens kultiviert. Die Früchte wurden gekocht, geröstet und als Mehl in Brot und Brei verwendet. Getrocknet sind die Kastanien etwa zwei Jahre haltbar, ebenso das Mehl, sodass mit diesem Grundnahrungsmittel auch Notvorräte angelegt werden konnten.

Die Kastanie diente früher aber auch der Schweinemast. Speck und Schinken sollen hervorragend schmecken, wenn Schweinen Kastanien verfüttert werden. Heute noch gibt es rund um Carrara (Italien) diesen Schinken mit seinem einzigartigen Geschmack als Delikatesse. Die Kastanienblätter wurden seinerzeit den Ziegen verfüttert und das Laub verwendete man im Stall als Streu.

Resistent gegen Fäulnis

Die stockausschlagfähige Edelkastanie war prädestiniert für die Bewirtschaftung im Niederwald. Das Holz wurde seinerzeit für Rebstickel und Pfähle sowie zur Herstellung von Weinfässern verwendet.

Das witterungsbeständige Holz wird heutzutage wieder vermehrt geschätzt. Zum Beispiel für den Aussenbereich. Es wird auch heute noch für Schindeln, Fensterrahmen, Gartenmöbel und den technischen Hangverbau (Lawinenverbauungen) sowie für Geräte auf Kinderspielplätzen eingesetzt, da es nicht imprägniert werden muss. Einst war die Kastanie auch eine begehrte Tanninquelle für die Gerberei, bis dann in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts die Tannine durch chemische Gerbmittel abgelöst wurden.

Frevlerin wird bestraft

Im Protokollbuch aus dem Jahr 1819 wurde folgender Eintrag gemacht:
«Aktum den 4ten Weinmonat Verwaltungs Rath gehalten 1819 in Betref der freflerey auf Unteralmeind in früchten.

Auf angenomenes Verhör, mit Katrina Walsery in Murg ihn Gegenwarth des Presidenten und dem Verwaltungs Rath, die Katrina Walsery ist das sie auf der almeind sol Kestenen genomen haben die ihren nicht gehört haben. Die Antworth wahr von ihre, es seye wahr, sie habe mit einem Stikell aben geschlagen und genommen. So hat der Verwaltungs Rath für disen fehler beschlosen, das sie zur Straf bezahlen sol 1 Franken und dem Weibell für Citazion 5 Bazen und zwahr in Zeit 14 Tagen. Solt es nicht geschehn so soll sie eine Kirchbus ausstehen müsen.» (bey)

Ausladend und mächtig: Die blühende Kastanie auf der Allmeind in Berschis ernährte seinerzeit einige Familien. Bild: TP
Grosses Publikum bei der Einweihung: Sepp Kühne (links) pflanzt zusammen mit Werner Vökt, Hauptamtsleiter der Gemeinde Murg, am Hochrhein (Deutschland) als Zeichen für die Zukunft einen Kastanienbaum.  Bild: Heidy Beyeler

Ein Fürsprecher für die Kastanie

Seit vielen Jahren wurde ein Rückgang der Edelkastanie auf der Alpennordseite festgestellt. Grund dafür dürften wohl die Früchte sein, die nicht mehr denselben Stellenwert wie einst haben. Auch das Holz sei nur noch von lokalem Interesse, schreibt waldwissen.net. Die Edelkastanie könne sich aber auf der Alpennordseite nur halten, wenn sie mit forstlichen Eingriffen begünstigt werde.

Und genau dies hat sich Sepp Kühne zum Ziel gesetzt. Dem Kastanienwald und der Kastanienselve in Murg soll vermehrte Aufmerksamkeit geschenkt werden, hat er sich vor über zehn Jahren gesagt und hat es auch getan. Er gründete mit Unterstützung der Ortsgemeinde Murg und Interessierten den Verein Pro Kastanie Murg. Seither konnte zusammen mit unzähligen Helfenden vieles erreicht werden: Es wurden ein attraktiver Kastanienweg und eine Selve mit Bienenhotel angelegt. Entlang dem Weg werden Wanderer begleitet von Holzskulpturen aus Kastanienholz, welche einheimische Tiere darstellen. Zur Holzgewinnung wird der Kastanienwald gehegt und gepflegt, das Kastanienstübli mit dem Kompetenzzentrum wurde realisiert, und jüngstes Kind rund um die Murger Kastanien ist wohl der einmalige Rast- und Spielplatz. Jährlich erscheint «s’Cheschtänäblatt», das über Neues aus dem Kastaniendorf Murg berichtet, und jedes Jahr wird ein unvergessliches Fest – die Murger Chilbi – organisiert. All das soll dazu beitragen, dass die Edelkastanie in Murg weiter an Boden gewinnt.

In den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gab es im Gebiet Rheintal, Werdenberg und Sarganser-land rund 4600 Edelkastanien, wie Heinrich Tanner, erster Forstadjunkt des Kantons St. Gallen, im Jahrbuch 1927 der St. Gallischen Naturwissenschaftlichen Gesellschaft veröffentlichte. Der grösste Bestand wurde schon damals in Murg erhoben – mit rund 1500 Bäumen, davon drei Exemplare in Quinten. Im ganzen Kanton wurden damals 4774 Edelkastanienbäume gezählt; inzwischen gibt es davon in Murg gut 1850 Bäume.

Die Holznutzung vom 15. bis ins 19. Jahrhundert

Viele prächtige Bäume seien für Säulen an Häusern – im Speziellen in Werdenberg – verwendet worden, schreibt Tanner. Zur Veranschaulichung der Dauerhaftigkeit erwähnte er den «Markschopf» von Werdenberg, der sicher «vor dem Jahr 1500 erbaut worden ist und dessen Säulen heute noch (1927) gesund sind; und in Wangs ist 1926 ein 200 Jahre alter Stall abgebrochen worden. Das für dessen Bau benötigte Kastanienholz war noch so kerngesund, dass es ohne weiters für einen Neubau (Bretter) Verwendung finden konnte.»

Kastanien wurden insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Herstellung von Bahnschwellen geschlagen. Ein grosser Teil der Rheintalerkastanie soll dem Bahn- und Häuserbau zum Opfer gefallen sein, schreibt Heinrich Tanner. Kastanienholz habe man aber auch für Tür- und Fenstergerichte, Schwellhölzer, Tragbalken, Trottbäume, aber auch für Türen und Täferholz eingesetzt.

Bald habe sich aber herausgestellt, dass Kastanienholz für Bahnschwellen ungeeignet sei, «da das Holz leicht spaltet und Eisennägel nicht festhält…». In Flums wurden noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schöne «Blöcher» gerade der leichten Spaltbarkeit wegen gern zur Schindelfabrikation (Dach- und Schirmschindeln) verwendet. In Mels und Vilters wurden lange Zeit «Büttenen» zum Anstellen des Weins und 200- bis 300-Liter-Fässer aus Kastanienholz gefertigt.

Eröffnung: Sepp Kühne (links) und Felix Zeller, ehemaliger Ortsgemeindepräsident, präsentieren die Orientierungstafel eingangs des Kastanienwegs. Bild: Heidy Beyeler

Standort und Namen

Für die Früchte der Kastanien gibt es allerhand Bezeichnungen und Schreibweisen: ächti Kastanie, Edelkastanie, zahmi Chestene, Chestele, Chegele, Cheschne, Cheschtänä. Marroni, Maroni, Marone etc.Die Edelkastanie mag sauren Boden und sie liebt die Wärme. Das milde, feuchtwarme Klima am Walensee ist in Murg für das Gedeihen der Castanea sativa optimal, nicht aber in Quinten. Zwar ist es ennet dem See warm, aber der kalkhaltige Boden passt derKastanie nicht. (bey)

Vom Aussterben bedroht

Heinrich Tanner befürchtete, dass die Kastanie allmählich verschwinden könnte, wegen der erwähnten Verwendungsarten des Holzes (Häuserbau und Schwellen etc.). Dazu kommt, dass «die Hochöfen von Flums und Murg, welche in früheren Zeiten zur Verhüttung des Gonzenerzes dienten, sicher auch mit dem grosse Brennkraft besitzenden Kastanienholz geheizt worden sind».

Als nicht unwesentlicher Faktor für den Rückgang der Kastanie sei sodann der da und dort jährlich kleiner werdende Ertrag an Früchten zu betrachten, schreibt Tanner weiter. Die stacheligen Kastanienigel hätten in der Folge bei der Nutzung von Laubstreu den Entschluss leichter gemacht, die Bäume zu fällen.

Trotzdem meinte der erste Forstadjunkt des Kantons St. Gallen damals, «dass im St. Gallerland keineswegs Kastanienselven angelegt werden sollen. Kein Obstbaum soll einer Kastanie Platz machen müssen.» Dennoch wünschte er sich, dass Kastanienbäume in ihrem heutigen Verbreitungsgebiet vermehrt geschont, gepflegt und auch angebaut werden und damit im Rheintal wieder Beachtung finden, «sei es als Alleebaum oder an sonnigen Plätzen auf Bauernhöfen».

Wunsch soll in Erfüllung gehen

Sepp Kühne, Präsident von Pro Kastanie Murg und Förster, hat sich voll der Kastanie verschrieben. Das hat ihm schliesslich die Ehre der Ernennung zum «Holzchopf 2013» eingebracht, mit der Begründung, er habe sich in den vergangenen Jahren rund um die Kastanie verdient gemacht. Seit der Gründung des Vereins ist die Kastanie auf der Alpennordseite und im Speziellen in Murg in aller Munde.

Sepp Kühne hat in Bezug auf die Kastanien und den Kastanienwald klare Ziele. Er würde sich wünschen, dass die Ausbreitung  zwischen dem Linthgebiet, dem Sarganserland und dem Rheintal durch gezielte Massnahmen begünstigt wird. Die Waldregion 3 hat diesbezüglich bereits ein entsprechendes Konzept erarbeitet. Jetzt ginge es eigentlich nur noch um die Umsetzung. Gut wäre es, wenn dazu auch weitere Selven bepflanzt werden könnten.

Das Verdikt wegen Kastanienfrevels im Original: Ein Franken Bussgeld, fünf Batzen für den Weibel – oder eine Kirchenbusse – so lautete das Urteil. Bild: TP

Gut oder schlecht?

Ob ein Jahr gute oder schlechte Kastanienernten einfuhr, wird augenscheinlich beim Studieren einer Statistik über die Erlöse der Ortsgemeinde aus der Versteigerung der Allmeind während den Jahren 1902 bis 1925. Aufgrund dieser Liste muss das Jahr 1917 sehr gut gewesen sein. Damals belief sich der Erlös auf Fr. 197.40, während er 1924 nur gerade mit 3 Franken verbucht wurde. Im Vergleich zu den Erträgen von Kirschen, Obst und Nüssen warfen summa summarum die Kastanien während den aufgezeichneten Jahren mit Fr. 815.50 am meisten Ertrag ab; die zweitbesten Erträge ergaben die Nüsse mit Fr. 374.70. Kirschen und Obst erbrachten für die Ortsgemeinde nur marginale Erträge.

In Dezember 1892 erstellte die Ortsgemeinde Murg ein Forstreglement, das von Landammann und Regierungsrat des Kantons St. Gallen genehmigt und beurkundet wurde. Unter Artikel 14 wurde die Nutzung von Früchten folgendermassen geregelt: «Die Kirschen, Äpfel, Birnen, Nüsse und Kastanien in den Waldungen, Alpen und diesem Fortreglement unterstellten Heu- und Streuetheilen und sämtliche übrigen Baumfrüchte auf Gemeindeboden, welche nicht zu einem Pflanz- oder Heutheil zugetheilt sind, werden alljährlich unter zweckmässigen Abtheilungen und Vorschriften rechtzeitig auf öffentlicher Gant veräussert.

Die nöthige Pflege der Fruchtbäume, die Bestimmung der Gantabtheilungen und Bezugsbedingnisse ist Verwaltungssache.» (bey)

«Terra plana» – die Zeitschrift für Kultur, Geschichte, Tourismus und Wirtschaft Bild: Terra plana
«Dieser Beitrag stammt aus der Dezemberausgabe 2013 der ‘Terra plana’.»
Heidy Beyeler/TP