Es ist idyllisch hier oben auf der Alp Brändlisberg im Calfeisental – die Pächter- und Hirtenfamilie Ritter hat aus der Alphütte eine heimelige Sommerresidenz geschaffen. Doch die Idylle trügt. In der Ferne hört man die Gänsegeier in der Luft kreisen, die Töchter der Ritters werfen einen vorsichtigen Blick auf die Bergspitzen. Die ganze Familie, dazu zählt in diesem Alpsommer auch Praktikant Tom Schiller, wirkt angespannt.
Mütter plärren nach Lämmern
Josef Ritter, der die Alp Brändlisberg zusammen mit seiner Frau Vera bereits seit 19 Jahren von der Ortsgemeinde Bad Ragaz pachtet, hat sofort geahnt, was passiert sein musste, als er letzten Freitagmorgen das verstörte Rindvieh eng beisammen stehen sah. «Schon im Herbst des vergangenen Jahres konnten wir mehrere Wölfe beobachten, zuletzt dann in diesem Frühling. Wir haben vom ersten Tag an, als wir mit dem Rindvieh auf die Alp hoch sind, gelitten», erzählt Ritter.
Gesehen haben sie die Wölfe zwar nicht mehr, aber wenn man so eng mit der Natur verbunden sei wie hier, «dann spürt man sie», sagt Vera Ritter weiter. Die Befürchtungen sind denn auch wahr geworden – allerdings, so vermuten die Ritters, fielen ihnen zuerst Schafe zum Opfer. Acht Tiere fehlen bis heute. Gefunden hat die Familie nur Teile von Skeletten, welche die Gänsegeier «sauber abgenagt» hätten. Aufgrund der fehlender Überreste wurde denn auch keine Meldung an den Kanton gemacht.
Die Muttertiere, denen die Lämmer entrissen worden waren, plärrten und schrien noch Tage später. Der Rest der Schafherde war ebenfalls verängstigt und wollte sich tagsüber nicht mehr draussen aufhalten. Doch irgendwie schafften es die Ritters, wieder eine gewisse Sicherheit in die Herde hineinzubringen.
Gänsegeier stürzen sich auf Kadaver
Und auch, den Vorfall selbst zu verarbeiten. Der Verlust eines jeden Tieres geht der ganzen Familie nah – schliesslich «ist es unser grösstes Ziel, alle Tiere wieder gesund ins Tal zu bringen», sagt Josef Ritter. Und Vera ergänzt: «Sie sind uns heilig.»
Dafür tut der erfahrene Hirte sein Möglichstes und ergreift die nötigen Herdenschutzmassnahmen. Dass dadurch aber weder Schafe noch Rinder vor Naturgefahren wie schlimmen Unwettern geschützt sind, ist auch Josef Ritter bewusst. Damit muss er rechnen – und deshalb ist er immer ein wenig erleichtert, wenn das Rind auf «dem schönen Boden» weiden kann. Dieser bietet verhältnismässig viel Sicherheit, die Tiere verbringen dort mit Abstand die meiste Zeit.
Nun hat sich der tragische Riss des einjährigen Rindes in der Nacht von letztem Donnerstag auf Freitag ausgerechnet auf dieser Weidefläche ereignet (Ausgabe von gestern Dienstag). Der Schock bei Familie Ritter sitzt noch immer tief, die Nächte verbringt sie noch manchmal schlaflos. Nicht nur wegen des Anblicks, den es zu ertragen galt – auch mussten sie den grossen Schwarm Gänsegeier vertreiben, der sich bereits auf den Kadaver gestürzt hatte, damit dieser nicht schon alle Spuren am Tier beseitigt. Unweit vom toten Rind lagen Haare und Knochen, die der Wolf wieder heraufgewürgt hatte.
Einwandfreie Alpwirtschaft
Josef und Vera Ritter sind äusserst dankbar, dass zumindest Rolf Wildhaber, der zuständige Wildhüter, schnell vor Ort gewesen sei und seine Arbeit gewissenhaft und professionell gemacht habe. Er wird nicht nur für die Rissbeurteilung herbeigezogen, sondern begutachtet auch den Herdenschutz.
Diesbezüglich bestätigt Wildhaber auf Anfrage, dass die Alpbewirtschaftung auf Brändlisberg vorschriftsgemäss und zum Schutz der Rinderherde einwandfrei betrieben wird: weder am Strom noch an der Zäunung gibt es etwas auszusetzen. Ausserdem haben sich die Tiere mitten auf der Weide, im geschützten Bereich also, aufgehalten.
Die äusserliche Überprüfung des Rinds habe zudem ergeben, dass es wahrscheinlich zwei Wölfe gewesen sind, die das Galtvieh vorne an der Schulter sowie hinten am Oberschenkel gepackt haben.
Aggressive, aber raffinierte Wölfe
Doch das ist nur ein kleiner Trost, denn das Ehepaar ist auch traurig, wütend und fühlt sich machtlos: «Was sollen wir machen mit dem Geld für den Herdenschutz, wenn dieser nichts nützt?», fragt sich Josef Ritter.
Nun, was denn er als langjähriger Älpler vorschlagen würde? Nicht den Abschuss. Es schwingt nämlich auch ein Hauch von Bewunderung mit, wenn er von den Wölfen im Calfeisental spricht. «Es sind zwar aggressive, aber raffinierte Wölfe, die sich sehr aufmerksam und wachsam verhalten.» Josef Ritter vermutet, dass es sich um hochalpin lebende Tiere handelt – sie würden von Grat zu Grat, also auch von Herde zu Herde wandern. Allerdings so, dass es praktisch unmöglich ist, sie zu Gesicht zu bekommen.
Die Ritters sehen die Problematik beim Bestand: «Es leben zu viele Wölfe auf zu wenig Raum.» Ausserdem fehle es den Raubtieren wie auch den Greifvögeln an ausreichend Nahrung – diese vermehren sich, während sich beispielsweise von Jahr zu Jahr immer weniger Hirsche in den Felsen hoch über St. Martin und dem Gigerwald-Stausee aufhalten.
Kein Zusammenleben möglich
Bei einem zweiten Wolfsriss würden Josef und Vera Ritter ohne Zögern die Alp mit seinen rund 220 Vieheinheiten Vieh entladen. Die 30 Schafe haben sie bereits hinunter ins Tal gebracht, zu gross war die Angst davor, dass die Wölfe noch mehr von ihnen holen würden. Und zu gross wohl auch der seelische Schmerz, den die sechsköpfige Familie, bei der alle auf der Alp Brändlisberg mit anpacken, hätte aushalten müssen.
Josef Ritter bittet den Kanton und den Bund, endlich einzugreifen und den Wolf zu regulieren. Denn es werde von Jahr zu Jahr schlimmer, und die Hirten, die in ihrer Arbeit eine Berufung sehen, der sie sich leidenschaftlich widmen, wollen und können sich diesem psychischen Stress nicht mehr aussetzen. Ständig unter Strom und dafür gewappnet zu sein, dass der Wolf eines der Tiere reisst, sei unzumutbar.
Die ersten Alpen werden bereits nicht mehr bestossen, und Josef Ritter sieht eine dunkle Zukunft, wenn die Behörden nicht bald mit Vertretern aus der Alpwirtschaft zusammensitzen und greifende Massnahmen beschliessen. «Noch geben wir alles dafür, dass das Ökosystem im Gleichgewicht bleibt. Wir wissen um seine Bedeutung, schliesslich sind wir in den Bergen aufgewachsen und haben mit der Natur und den Tieren zusammengelebt. Aber mit dem Wolf ist in diesem Ausmass schon in Kürze kein Zusammenleben mehr möglich.»