Gisela Salge ist in der literarischen Kulturszene hierzulande keine Unbekannte. Von ihr erscheinen seit Jahren im Rahmen der «Literatur Sarganserland» regelmässige Beiträge in der «Terra plana». Zur Buchlesung hatten sich rund 30 Interessierte eingefunden, um gespannt zu erwarten, was für Geschichten die Autorin aus dem Überseekoffer zaubern würde.
Wurzeln in der Kolonialzeit
Der Überseekoffer weist darauf hin, dass die Anfänge dieser Familiensage in die Zeit zurückreichen, als der Atlantik nur per Schiff überquert werden konnte. Väter, Söhne, Brüder, Neffen und Enkel der Kaufmannsfamilie aus Norddeutschland (im Buch werden nur Vornamen genannt) waren unterwegs in Sachen Tee, Kaffee und Kakao und handelten mit kostbar duftenden Waren aus Indonesien, Kolumbien und Mexiko. Johann und Cathy waren die Ersten dieser Familiendynastie, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die damalige holländische Kolonie Indonesien aufmachten, um dort ihre lukrativen Geschäfte zu tätigen. Europäer führten, meist als Plantagenbesitzer, in den Kolonien ein angenehmes Leben und liessen die Einheimischen auf den Feldern oder als Bedienstete als billigste Arbeitskräfte schuften. Trotzdem gab es im sich -ausweitenden Familiengeflecht auch Schicksalsschläge, die sich nicht nur in Übersee, sondern auch in der angestammten Heimat abspielten. Denn dort warteten zurückgebliebene Ehefrauen, Mütter und Schwestern auf Post und Heimatbesuche.
Mit viel Liebe zum Detail
Gisela Salge zählt in ihrem Buch nicht einfach chronologisch Ereignisse von der Kolonial- bis zur neueren Zeit auf. Die erste Geschichte «Das leere Haus» nimmt die Zukunft gleich voraus: Die Autorin beschreibt feinfühlig einen Besuch der nun verlassenen Villa «Welte-vreden» in Norddeutschland, die während Jahrzehnten voll pulsierenden Lebens als heimatlicher Anker für die Onkel, Tantchen, Rückkehrer und herumtollenden Enkel diente und in den Geschichten immer wieder vorkommt. Erinnerungen werden wach: das Tantchen Hedwig auf der Aussichtsterrasse mit ihrem Hund unbestimmter Rasse, die kleine Katja, die im weissen Kleidchen gesprungen kommt, und viele andere Figuren, die einst das nun kalte, leere und verfallene Haus beseelten. «Nebelschwaden steigen auf, ziehen vorüber, wischen aus, was eben die Erinnerung gestaltete.» Die Erzählkunst der Autorin gleicht einem digitalen Bild mit hoher Auflösung: Je mehr Pixel, umso schärfer kommen die Details in Erscheinung. Der Genuss beim Lesen dieses literarischen Juwels zieht sich durch alle 20 «verstreuten Geschichten» aus dem Überseekoffer.
In der vier Generationen dieser Kaufmannsfamilie umfassenden Zeitepoche gab es gewaltige politische und gesellschaftliche Veränderungen. Ne-ben vielen anderen packend und überaus anschaulich beschriebenen Ereignissen und Szenen sei vor allem die eindrückliche Schilderung der Situation der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland erwähnt, als das «Weltevreden» als Hort für Verwandte diente, deren Häuser in Schutt und Asche lagen.
Der spannend beschriebene Zeitenfluss findet im letzten Abschnitt des Buches eine feinsinnige Zusammenfassung: «Überall Zeit, die vorbeifliesst, voranschreitet, schleicht, tickt und schlägt. Auf dem Friedhof bleibt sie stehen. Im sanften Schatten der Trauerweiden schaukeln Schmetterlinge, duftet Flieder, leuchten Rosen, erinnern Grabsteine, finden Ruhe bei den Toten die Lebenden.»