Die Bibliothek von Sprecher umfasst auch eines der wichtigsten Bündner Familienarchive ausserhalb des Staatsarchivs. «Es sind mehr als 23'500 Titel gewesen, als wir vor zehn Jahren mal alles nachgetragen haben», sagt Hausherr Andreas von Sprecher. Doch der Begriff «Familienarchiv» sei nicht ganz korrekt, denn lediglich zehn Prozent der Bücher und Schriftensammlungen behandle effektiv die Geschichte der Sprechers. Unter all den Schätzen, die zwischen Buchdeckel geklemmt wurden, findet sich ein ganz spezielles Unikat, nämlich das handgeschriebene Werk «Topographie des alpinen Rätiens», welches von Ulrich Campell 1573 auf Lateinisch verfasst wurde.
Ein wertvolles Zeitdokument
Der Historiker Florian «Fluri» Hitz hat sich über vier Jahre hinweg intensiv mit dem Werk auseinandergesetzt. Aus dem dürftig zusammengehefteten Stoss Blätter des Originalmanuskripts sind drei Bände einer übersetzten und erläuterten Textausgabe geworden. «Das Werk beschreibt ausführlich, wie die Zeit der drei Bünde und des alpinen Rätiens im 16 Jahrhundert war.» Doch nicht nur der Rückblick, wie es damals in der Region ausgesehen hat, fasziniert den Projektleiter Geschichte beim Institut für Kulturforschung Graubünden, auch die Art des Verfassers scheint es ihm angetan zu haben. «Ulrich Campell aus Susch war Prediger und hat aktiv mitgeholfen, die Reformation in Graubünden voranzubringen. Zudem war er auch als Politiker tätig und hat möglichst alles unternommen, dass man sich nicht auf ein Bündnis mit dem katholischen Spanien einliess.» Sein Wirken sei zu der damaligen Zeit sogar den Zürchern aufgefallen, weshalb sie ihm dem Auftrag gegeben hatten, ein solches topografisches Abbild der Region zu verfassen. «Ursprünglich war geplant, eine geografische Beschreibung der ganzen Schweiz zu realisieren», erklärt Hitz. «Doch entstanden sind nur eine Darstellung über das Wallis sowie eben dieses Buch hier, welches oft abgeschrieben, aber erst im 19 Jahrhundert offiziell gedruckt wurde – und das auch nur in der lateinischen Fassung.»
Vom Lokalpatriotismus zum Archiv
Die Gründe für die Nichtpublikation von Campells Werk seien verschieden gewesen. «Es war sicher so, dass Campell sehr ausschweifend geschrieben hat. Vor allem, wenn er einen Ort mochte, ging er öfters stark ins Detail, was bei den Auftragsgebern nicht nur Begeisterung auslöste.» Doch seine Art, so tief in die Materie einzutauchen, habe für die Nachwelt viele positive Aspekte, sagt Florian Hitz. «Campell schrieb eben nicht nur über die Dörfer in der Region, sondern auch, welche Familien wo und wie lebten und auch welche Flora und Fauna hier heimisch gewesen sind im Jahr 1573.» Seine durch Lokalpatriotismus gefärbten Anekdoten werden, auch wenn sie zum Teil leicht übertrieben sind, bis heute noch von vielen Historikern und Archäologen geschätzt. «Campell hat beispielsweise eine genaue Bestandesaufnahme aller Burgen und Burgruinen in der Region gemacht, die wir ohne seine Arbeit nicht hätten. Das Werk ist eine Momentaufnahme von unschätzbarem Wert für so viele Bereiche. Zum Glück hat er sich nicht von seinem Weg abbringen lassen.»
Geschichte erwacht zum Leben
Eine recht intensive Arbeit seien jeweils die Übersetzungen des Werkes gewesen. «Campell hat meist ein recht schwieriges Latein verwendet, bei welchem halbseitige Sätze und viele Schachtelsätze nicht unüblich gewesen sind. Eine eins-zu-eins-Übersetzung hätte den Text schnell mal um weitere zwanzig Prozent aufgeblasen, weshalb wir die grammatische Struktur in der Wiedergabe vereinfacht haben. So ist das Werk nun wirklich einem grösseren Publikum zugänglich.» Mit den drei Bänden ist Fluri Hitz seit Februar dieses Jahres auf Tournee und hat das Werk bereits in Langwies, Sils im Engadin, Davos und Castasegna vorgestellt. Als nächster Stopp der Reise steht nun die Bibliothek der Familie von Sprecher am 10. Mai auf dem Plan, was quasi ein Heimspiel für das Buch wird. Während Andreas von Sprecher ein paar Worte zur eindrücklichen Bibliothek sagen wird, trägt an diesem Abend die Schauspielerin Ursina Hartmann die Texte vor. Florian Hitz wird dabei zeitliche Einordnungen und viel Wissenswertes miteinbringen, so dass die Geschichte der Region auch richtig zum Leben erweckt wird. Wer an diesem unvergesslichen Abend in den geschichtsträchtigen Mauern teilnehmen möchte, wird gebeten sich anzumelden. Dies kann man per Mail an info@kulturforschung.ch oder auch telefonisch unter der Nummer +41 81 252 70 39.
Region
23.04.2023
Eine Zeitreise ins Jahr 1573 erleben
Bild:
Christian Imhof
Das Sprecherhaus in Maienfeld verfügt nicht nur über das Weingut Pola, sondern beinhaltet zudem noch eine der grössten Schweizer Privatbibliotheken. Genau in dieser findet am 10. Mai ab 18.30 Uhr eine Lesung aus dem Buch «Topographie des alpinen Rätiens» (1573) von Ulrich Campell statt. Dies passt relativ gut zusammen, da Andreas von Sprecher das 450 Jahre alte Original des Werks besitzt.