Hanspeter Trütsch, Esther Friedli holte beim ersten Wahlgang mit Abstand die meisten Stimmen. Haben Sie mit solch einem Ergebnis gerechnet?
Mit einem solch klaren Ergebnis von Esther Friedli im ersten Wahlgang hat wohl niemand gerechnet. Mit einem Stimmenanteil von 43.9 % hat sie weit über das Wählerpotential der SVP hinaus mobilisiert und holte sich in 73 von 75 Gemeinden den Spitzenplatz. Das ist ein Top-Resultat. Damit startet sie mit einem komfortablen Vorsprung in die zweite Runde. Selbst in Wil, dem Wohnort von Barbara Gysi, machte Friedli mehr Stimmen als ihre Mitbewerberin. Das ist schon aussergewöhnlich und war in dieser Klarheit nicht zu erwarten.
Was hat Friedli bzw. die Partei Ihrer Meinung nach richtig gemacht?
Die Ankündigung von Barbara Gysi unmittelbar nach Bekanntgabe des Resultats zum 2. Wahlgang wieder anzutreten, hat nicht nur im bürgerlichen Lager viele brüskiert. Aus der persönlichen Optik der SP-Kandidatin ist dies zwar nachvollziehbar, aber taktisch unklug. Wenn die SP die SVP-Kandidatin hätte verhindern wollen, hätte man sich auf eine Kandidatur von Susanne Vinzenz-Stauffacher einigen müssen. Weil dies nicht geschah und sich die FDP-Kandidatin zurückgezogen hat, bleibt Friedli in der Pole-Position und dürfte wohl als strahlende Siegerin den Einzug in den Ständerat schaffen.
Wird das Gysi Stimmen kosten?
Mag sein, dass dieses Vorgehen Barbara Gysi Stimmen kosten wird. Aber unterm Strich ändert sich nichts an der Ausgangslage. Das Potential von rot-grün von zusammen 34.7 % im ersten Wahlgang ist ausgeschöpft. Selbst wenn jetzt noch Stimmen aus dem GLP-Lager dazukommen, reicht es nicht, dass es für Esther Friedli gefährlich werden könnte.
Die Mitte beschloss Stimmfreigabe. Abweichende Stimmen aus der FDP oder Bekenntnisse aus der früheren CVP sind kaum auszumachen. Warum erhält Gysi im Gegensatz zu Paul Rechsteiner so wenig Unterstützung von den Bürgerlichen?
Barbara Gysi politisiert als Gewerkschafterin klar links. Ihr Engagement für faire Löhne, Gleichberechtigung und etwa die Pflegeinitiative ist anerkannt. Paul Rechsteiner politisierte ebenfalls dezidiert links, war bei seiner Wahl in den Ständerat bereits 25 Jahre im Nationalrat, im ganzen Kanton bekannt und präsent und schaffte seine damals überraschende Wahl auch wegen der taktischen Fehler der CVP. Die Ausgangslage ist bei dieser Ersatzwahl völlig anders.