Wenn anfangs August, genauer zwei Tage vor Ferienbeginn, der Chef an die Bürotür klopft, mit dieser einen, schon zu oft gesehenen, in seinen Augen wohl geheimnisvoll anmutenden, für den Rest der Welt aber alles verratenden Mine, dann ist klar: Bevor der lang ersehnte und wohlverdiente Urlaub und ein Segeltörn auf Sardinien winkt, wartet eine besondere Aufgabe. Die Ferien wollen verdient sein. Aber wie?
«Nachwuchs beim Calfeisenrudel», waren Tage zuvor schon die Schlagzeilen im «Sarganserländer» und in vielen anderen Schweizer Zeitungen. Dass der Bau des Rudels unmittelbar unter dem Obersäss der Taminataler Alp Schräa lokalisiert wurde, liess in der Älplerin Lorena Ritter die Angst aufflammen – und beim Chefredaktor den Hunger nach einer Reportage vor Ort. Sein Auftrag war kurz und klar. Schritt eins: zur Alp wandern. Schritt zwei: Lorena bei ihrem Tagesgeschäft begleiten. Schritt drei: eine Nacht in der Hütte verbringen. Schritt vier: das Wolfsrudel sichten und nach Möglichkeit mit der Kamera festhalten. Schritt fünf: die Reportage zu Papier bringen. Zwei Tage, fünf Schritte, bis zum wohlverdienten Urlaub.
Grosse Angst, eine noch grössere Kontroverse
Schritt eins war ein Leichtes, ein Fussmarsch von der Walsersiedlung Sankt Martin auf das Obersäss der Alp, 644 Höhenmeter, zwei Stunden. Schritt zwei war ein Unangenehmer. Nicht etwa wegen der Hirtin, die sich trotz ihren blutjungen 20 Jahre sehr bestimmt, reif und verantwortungsbewusst, aber auch bodenständig und freundlich gab. Sondern eher wegen der fast fühlbaren Präsenz eines Grossraubtiers in unmittelbarer Nähe und der immerwährenden Frage, wer hier wohl wem auf der Lauer liegt. Schritt drei war kurz und nass, nicht zuletzt wegen der zu klein geratenen Mütze voll Schlaf und den nächtlichen Kontrollgängen auf den Rinderweiden bei strömendem Regen. Schritt vier war ein Ding der Unmöglichkeit – eine Sichtung blieb aus. Und Schritt fünf war zwar eher heikel, liess die delikate Angelegenheit doch keine sprachlichen oder inhaltlichen Ungenauigkeiten zu. Und doch lebte die Reportage von einer Momentaufnahme auf der Alp, also vor allem von Eindrücken vor Ort und Aussagen der Älplerin, was für den Autor viel Spielraum bedeutete.
Wie dem auch sei, am Samstagabend waren die Eindrücke sortiert, die Geschichte vertextet, die Bilder aufbereitet. Der Artikel erschien am Dienstag darauf in der Grossauflage, auf der Website und auf den Social-Media-Kanälen des «Sarganserländers» – und sein Autor im Flugzeug nach Sardinien, vorfreudig und zufrieden mit sich und der Welt. Nie hätte er sich träumen lassen, dass seine Reportage ein derart grosses Echo auslösen würde. Zwei riesige Wellen, einerseits der Unterstützung und Empathie, andererseits der Entrüstung. Sie prallten im Netz innert Stunden aufeinander und krachten wie eine Sintflut auf die Redaktionsstube ein.
Eine Sintflut ist zum Segeln ungeeignet
Dass das Einzugsgebiet eines Wolfsrudels riesig sein kann, wurde mehrfach geschrieben. Dass es sich aber sinnbildlich bis in die Karibik Europas, wie Sardinien auch genannt wird, erstrecken kann, war neu, überraschend und erschreckend zugleich. Die Reportage über Lorena und den Wolf erreichte auf dem virtuellen Weg fast eine Viertel Million Leserinnen und Leser, wurde fast 400 Mal geteilt und hunderte Male kommentiert, bevor aufgrund der kontroversen und emotionalen Diskussion die Kommentarfunktion deaktiviert werden musste. Die Reportage wurde zum Politikum, löste Medienkonferenzen mit Vertreterinnen und Vertretern aus der kantonalen und der nationalen Regierung aus, befeuerte das Vorhaben verschiedener Parteien in Bundesbern, ein gesetzliches Schlupfloch zur Regulierung des Wolfs in der Schweiz zu erwirken. Es folgten diverse Berichterstattungen, Leserbriefe, Kommentare und Telefonate mit einem doch auch etwas überforderten Chefredaktor.
Und der Autor? Der verfolgte das Geschehen auf seinem Katamaran, über türkisblaues Wasser gleitend, sonnenbadend und schmausend. Er wunderte sich, welche Dimensionen das geflügelte Wort «nach mir die Sintflut» annehmen kann. Kurzzeitig von Gewissensbissen geplagt, segelte er trotzdem in den kitschig-roten Sonnenuntergang.