«Wir lassend üch wissen, das ietz kurtzlich ain knecht von todz wegen ab ist gegangen, hiess Hans Tuerr und sass Hinderm Vorst ze Baechis [Hinterforst bei Bächis bei Altstätten], der hat sechs klaini kind hinder im gelassen, und ist die frow der kind muoter in grosser armuot, won die kind als klain sind, das dehains [keines] dem andern nütz kan ze guot tuon und sorgend, das si die in dehaine wiß ernerren mug, won das unlidiga gebrest [Beeinträchtigung] die muoter und die kind an gang.»
Diese Missive ist ein Hilferuf nach St.Gallen.
Im Brief steht, dass vor kurzer Zeit Hans Dürr, ein Knecht, gestorben sei. Neben seiner Frau habe er sechs kleine Kinder hinterlassen. Die Witwe lebe in Armut und könne die vielen Kindern nicht alleine ernähren. Da die Kinder noch zu klein seien, um zuhause mitzuhelfen, bittet sie, zwei der Kinder ins St.Galler Spital aufzunehmen – solange bis diese sich selber ernähren können.
Die Missive ist undatiert, stammt aber von der Schrift her aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Sie wurde im Namen der Witwe vom Amman und Rat zu Altstätten verfasst und ist an den Bürgermeister und Rat zu St.Gallen gerichtet.
Ein solches Bittschreiben ist nicht ungewöhnlich, es gab immer wieder Eltern, die sich nicht um ihre Kinder kümmern konnten, sei es aus Armut oder wie hier weil ein Elternteil verstorben war. In solchen Fällen waren Spitäler des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zentrale Fürsorgeinstitutionen.
Auch in St.Gallen wurden nicht nur Waisen und Halbwaisen aufgenommen, sondern eine Vielzahl an Hilfsbedürftigen: Obdachlose, Alkoholabhängige, alte Menschen, die nicht mehr für sich selber sorgen konnten.
Neben dem Spital gab es im 15. Jahrhundert weitere städtische Einrichtungen für Kranke wie das Siechenhaus.
Dieses befand sich abgesondert ausserhalb der Stadt und nahm St.Galler Bürgerinnen und Bürger auf, die an ansteckenden Krankheiten wie Lepra litten. Im 16. und 17. Jahrhundert entstanden weitere Fürsorgeinstitutionen wie das Prestenhaus für Schwerkranke, das Seelhaus für Fremde und 1663 das Zucht- und Waisenhaus für Waisen, Halbwaisen, ungehorsame Kinder und arme, kleinkriminelle und sogenannt «liederliche» Erwachsene.
Das damalige Fürsorgewesen ist nicht mit dem heutigen differenzierten Anstaltswesen vergleichbar und das Spital muss als Multifunktionsanstalt betrachtet werden.
Die aus dem 13. Jahrhundert stammende Ordnung des Heiliggeistspitals in St.Gallen zeigt diese ganze Vielfalt auf: Es wurden generell «Hilfsbedürftige» aufgenommen, die nicht selbst betteln konnten. Es heisst zudem explizit, dass verwaiste und verlassene Kinder im Spital Obdach erhielten: «kind, dü nieman hant, sol man zühen» im Sinne von: «Kinder, die niemanden haben, soll man erziehen».