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Das Spital als Fürsorgeinstitution für Waisen im 15. Jahrhundert

Missive aus dem 15. Jahrhundert
Missive aus dem 15. Jahrhundert
Das Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde hat den Briefverkehr («Missiven») der Stadt St.Gallen von 1400 bis 1650 digital erfasst. Als «Missive des Monats» stellen wir Ihnen jeden ersten Freitag im Monat ein besonders interessantes Schriftstück vor. Heute: Spitäler als zentrale Fürsorgeinstitutionen.

«Wir lassend üch wissen, das ietz kurtzlich ain knecht von todz wegen ab ist gegangen, hiess Hans Tuerr und sass Hinderm Vorst ze Baechis [Hinterforst bei Bächis bei Altstätten], der hat sechs klaini kind hinder im gelassen, und ist die frow der kind muoter in grosser armuot, won die kind als klain sind, das dehains [keines] dem andern nütz kan ze guot tuon und sorgend, das si die in dehaine wiß ernerren mug, won das unlidiga gebrest [Beeinträchtigung] die muoter und die kind an gang.»

Diese Missive ist ein Hilferuf nach St.Gallen.

Im Brief steht, dass vor kurzer Zeit Hans Dürr, ein Knecht, gestorben sei. Neben seiner Frau habe er sechs kleine Kinder hinterlassen. Die Witwe lebe in Armut und könne die vielen Kindern nicht alleine ernähren. Da die Kinder noch zu klein seien, um zuhause mitzuhelfen, bittet sie, zwei der Kinder ins St.Galler Spital aufzunehmen – solange bis diese sich selber ernähren können.

Die Missive ist undatiert, stammt aber von der Schrift her aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Sie wurde im Namen der Witwe vom Amman und Rat zu Altstätten verfasst und ist an den Bürgermeister und Rat zu St.Gallen gerichtet.

Ein solches Bittschreiben ist nicht ungewöhnlich, es gab immer wieder Eltern, die sich nicht um ihre Kinder kümmern konnten, sei es aus Armut oder wie hier weil ein Elternteil verstorben war. In solchen Fällen waren Spitäler des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zentrale Fürsorgeinstitutionen.

Auch in St.Gallen wurden nicht nur Waisen und Halbwaisen aufgenommen, sondern eine Vielzahl an Hilfsbedürftigen: Obdachlose, Alkoholabhängige, alte Menschen, die nicht mehr für sich selber sorgen konnten.

Neben dem Spital gab es im 15. Jahrhundert weitere städtische Einrichtungen für Kranke wie das Siechenhaus.

Dieses befand sich abgesondert ausserhalb der Stadt und nahm St.Galler Bürgerinnen und Bürger auf, die an ansteckenden Krankheiten wie Lepra litten. Im 16. und 17. Jahrhundert entstanden weitere Fürsorgeinstitutionen wie das Prestenhaus für Schwerkranke, das Seelhaus für Fremde und 1663 das Zucht- und Waisenhaus für Waisen, Halbwaisen, ungehorsame Kinder und arme, kleinkriminelle und sogenannt «liederliche» Erwachsene.

Das damalige Fürsorgewesen ist nicht mit dem heutigen differenzierten Anstaltswesen vergleichbar und das Spital muss als Multifunktionsanstalt betrachtet werden.

Die aus dem 13. Jahrhundert stammende Ordnung des Heiliggeistspitals in St.Gallen zeigt diese ganze Vielfalt auf: Es wurden generell «Hilfsbedürftige» aufgenommen, die nicht selbst betteln konnten. Es heisst zudem explizit, dass verwaiste und verlassene Kinder im Spital Obdach erhielten: «kind, dü nieman hant, sol man zühen» im Sinne von: «Kinder, die niemanden haben, soll man erziehen».

Ausschnitt aus der deutschen Fassung der Ordnung des Heiliggeistspitals in St.Gallen. Die lateinische Urkunde stammt von 1228, die deutsche Fassung stammt aus dem 14. Jahrhundert Bild: StadtASG, Spitalarchiv, B,1,2

Im Spital kümmerten sich Waisenmutter und Schulmeister um die Kinder und teilten bei Ungehorsam auch Strafen aus. Die Kinder erhielten Unterricht in der spitaleigenen Schule in Schreiben, Lesen und Religion. Die Mädchen mussten zudem Kleidung flicken und nähen als Vorbereitung auf eine Stelle als Dienstmagd.

Auf dem Melchior Frank Plan von 1596 ist das Spital mit mindestens 12 Häusern zu erkennen, die nebst dem Parterre über zwei weitere Stockwerke verfügten. Damals hatte das Heiliggeistspital seine Ausdehnung erreicht, die es bis zu seiner Aufhebung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beibehielt Bild: StadtASG, Planarchiv, S 2, Ie

Das Spital lag an zentraler Lage zwischen Markt-, Spital- und Kugelgasse St.Gallen.

Zur Finanzierung musste das Spital Einnahmen generieren. Dazu diente der an Bauern verliehene Grundbesitz im Umland der Stadt in einem Radius von rund 30 Kilometern. Die Natural- und Geldzinsen, vor allem Getreide, Fleisch Wein, dienten der Versorgung der Spitalbewohner und -bewohnerinnen. Darüber hinaus beteiligte sich das Spital mit Gewinn am Handel mit diesen Produkten.

Die erwähnte Missive Nr. 345 ist abrufbar unter: https://missiven.stadtarchiv.ch/data/stasg_missiv_00345.xml

Wer noch mehr zum Thema erfahren will, findet dazu einen interessanten Beitrag von Noëmi Schöb namens «Umgang mit Waisen und ungehorsamen Kindern in der Frühen Neuzeit. Kinder im Zucht- und Waisenhaus St. Leonhard im 17. und 18. Jahrhundert», in: Historischer Verein des Kanton St.Gallen (Hg.): Kindheit in der Ostschweiz (Neujahrsblatt 164), St.Gallen 2024, S. 70–79.

Sie finden den Beitrag hier: https://stadtarchiv.ch/inhalt/Schoeb_Waisenhaus_NJB_2024.pdf

Literatur

  • Denzler, Alice: Jugendfürsorge in der Alten Eidgenossenschaft: Ihre Entwicklung in den Kantonen Zürich, Luzern, Freiburg, St.Gallen und Genf bis 1798, Zürich 1925.
  • Krauer, Rezia: Die Institutionen für Kranke in der Stadt St.Gallen im Mittelalter und der Frühen Neuzeit, in: Historischer Verein St.Gallen (Hg.): Zeit für Medizin! Einblicke in die St.Galler Medizingeschichte (Neujahrsblatt 151), St.Gallen 2011, S. 63–67.
  • Mayer, Marcel: Hilfsbedürftige und Delinquenten: Die Anstaltsinsassen der Stadt St.Gallen 1750–1798, St.Gallen 1987 (St.Galler Kultur und Geschichte 17).
  • Sonderegger, Stefan / Ziegler, Ernst: Vom Heiliggeist-Spital zum Bürgerspital, St.Gallen 1995.
  • Sutter, Pascale: Spital und öffentliche Fürsorge im 16. Jahrhundert, in: Wissenschaftliche Kommission der Sankt-Galler Kantonsgeschichte (Hg.): Sankt-Galler Geschichte, Bd. 4, St.Gallen 2003, S. 167–182.
Noëmi Schöb