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Beseelt und kraftvoll: So war die Woche in der Wiborada-Zelle

Einige Tage vor seiner eigenen Einschliessung stattete Gabriel Imhof (rechts) mit dem Team des Fadegrad-Podcasts der ersten Inklusin Judith Bischof bereits einen Besuch ab.
Einige Tage vor seiner eigenen Einschliessung stattete Gabriel Imhof (rechts) mit dem Team des Fadegrad-Podcasts der ersten Inklusin Judith Bischof bereits einen Besuch ab. Bild: Fadegrad-Podcast
Zwischen Ende April und Ende Mai liessen sich fünf Menschen für eine Woche in die Wiborada-Zelle an der St.Mangenkirche einschliessen. Wie haben sie die Woche erlebt? Im Interview mit stgallen24.ch sprechen die Inklusen übers Nichtstun, Vertrauen in sich selbst und in andere sowie die Freude übers Aufschliessen.

Judith Bischof, Hansruedi Felix, Cathrin Legler, Gabriel Imhof und Judith Hosennen nahmen 2024 am Wiborada-Projekt teil. Sie verbrachten eine Woche eingeschlossen in einer Holzzelle an der St.Mangenkirche in St.Gallen, zu Ehren der Stadtheiligen Wiborada, die sich ebenfalls vor über 1000 Jahren einmauern liess.

Eine Woche fast vollständig abgeschnitten von der Aussenwelt, ohne Handy, ohne fliessendes Wasser, lediglich mit sich allein – oder vielleicht mit einer höheren Macht. Wie war dieses Erlebnis?

Liebe Inklusen, was war das Erste, das Sie gemacht haben, als die Zellentür hinter Ihnen geschlossen wurde?
Judith Bischof:
Ich habe meine Jacke an den Hacken gehängt. Mitten im Raum habe ich im Stehen die Augen geschlossen und einige tiefe Atemzüge genommen. Die Stimmen von draussen wurden schwächer. Der ganze Ballast fiel von mir ab und ich spürte, ich bin nun hier – in meinem Wohnraum und Wirkungsort auf Zeit – für ganze sieben Tage und sieben Nächte. Ein Glücksgefühl stellte sich ein.
Cathrin Legler:
Zuerst habe ich mich mal hingesetzt und versucht zu spüren, was das jetzt mit mir macht. Grosse Freude machte sich breit. Dann aber räumte ich meinen Koffer aus und richtete mich gemütlich in der Zelle ein.
Judith Hosennen: Gabriel Imhof, der vor mir in der Zelle war, hinterliess mir eine brennende Kerze. Ich kam rein, sah die Kerze und fühlte mich gleich wohl. Es war wie ein «Ankommen», ein «Daheim». Dann packte ich aus, zog mein Bett an und richtete mich ein.

Wie verging für Sie die Zeit in der Zelle?
Hansruedi Felix: Ich habe meine Zeit hauptsächlich mit Nichtstun verbracht und, wie ich im Interview vor dem Projekt bereits erzählt habe, mit Atmen. Das Atmen war übrigens mitunter die wichtigste Technik, die mich geleitet hat: Tief in den Bauch zu atmen bis zum Beckenboden. Die letzten Tage war ich nur noch glücklich
Judith Hosennen: Die Zeit verging für mich sehr schnell. Bei allem, was ich tat, sass ich vorher und nachher kurz in der Stille.
Cathrin Legler: Es gab Zeiten, da war einfach nichts und ich habe auch nichts gemacht. Das waren aber trotz des «Nichts» gute und intensive Zeiten.

Hier zeigte Initiantin Hildegard Aepli (rechts) den Inklusen erstmals die Zelle. Bild: Hildegard Aepli

Was war das prägendste Erlebnis, das sie während der Woche erlebt haben?
Gabriel Imhof:
Ich erhielt viele Fürbitten. Da wurde mir klar, dass ich nicht bloss für mich allein in dieser Zelle bin, sondern auch für die Menschen, die mir begegnen und ihre Fürbitten dalassen.
Hansruedi Felix:
Ein guter Freund von mir hat den weiten Weg von Klosters nach St.Gallen auf sich genommen, nur um mich zu sehen. Ich werde bald den umgekehrten Weg auf mich nehmen, um ihm und seiner Frau einen Besuch abzustatten.
Judith Hosennen: Neben dem Besuch einer Oberstufenklasse war es das Gefühl, Freiheit zu spüren, obwohl ich eingeschlossen war.
Cathrin Legler: Durch das Eingeschlossensein erhält man nur sehr wenige Inputs von aussen. Durch die fehlende Anregung und Ablenkung ergab sich innerlich eine Konzentration.
Judith Bischof: Ganz klar am prägendsten waren die Begegnungen mit den ganz vielen und unterschiedlichsten Menschen am Fenster der Wiborada-Zelle. Ich, Inklusin Judith, wurde besucht und auch im Vertrauen für ein persönliches Anliegen aufgesucht.

Haben Sie sich auf das Aufschliessen gefreut? Wurden Sie vielleicht mit der Zeit sogar etwas ungeduldig?
Cathrin Legler:
Ich habe mich sehr darauf gefreut, dass ich mich wieder draussen bewegen und auch wieder arbeiten gehen konnte. Ungeduldig war ich nicht. Im Gegenteil, ich habe es bis zur letzten Minute ausgekostet.
Judith Hosennen:
Ich wäre fast lieber noch einige Zeit in der Zelle geblieben, ich kam richtig auf den Geschmack.
Hansruedi Felix: Einen Tag vor dem Aufschliessen sehnte ich mich nach einer Zigarre und einem Glas Rotwein. Und das habe ich dann auch bekommen.
Gabriel Imhof: Ungeduldig war ich einen Tag vor der Öffnung der Zelle. Ich merkte, dass ich gerne einen Spaziergang machen und die Freiheit geniessen würde.

In drei Treffen bereiteten sich die Inklusen auf die Woche in der Zelle vor; links Judith Hosennen, in der Mitte Hansruedi Felix, rechts Cathrin Legler Bild: Hildegard Aepli

Welche Erfahrungen nehmen Sie von der Woche mit?
Judith Hosennen:
Das Gefühl, wie wertvoll es sein kann, einfach da zu sein, ohne etwas leisten zu müssen.
Gabriel Imhof: Ich habe gelernt, dass das Alleinsein in diesem Kontext eine enorme Qualität besitzt. Ich kann die Stille und auch mich selber aushalten.
Judith Bischof: Ich darf darauf vertrauen, dass ich nicht allein, sondern ein Teil vom grossen Ganzen bin und dass für mich gesorgt wird. Ich darf annehmen, was mir entgegengebracht wird. Im Interview vor der Woche habe ich gesagt, ich sei ein «Seelenmensch». Jetzt weiss ich: Ich bin auch ein Beziehungsmensch.

In diesem Moment liest bestimmt eine Person diesen Artikel und fragt sich, ob das Wiborada-Projekt auch etwas für sie sein könnte. Was können Sie als ehemalige Teilnehmer dieser Person mit auf den Weg geben?
Gabriel Imhof:
Ich würde empfehlen, vor der Woche einige kleine Übungen des Alleinseins zu praktizieren. Vielleicht einige Tage in einem Kloster zu verbringen oder ein Schweige-Retreat zu machen. So sammelt man erste kleine Erfahrungen und ist besser auf die Woche vorbereitet.
Judith Bischof: Das Allerwichtigste ist, wie ich finde, auf sein Innerstes zu hören. Man sollte einfach sich selbst sein und Vertrauen haben, dass alles gut kommt.
Hansruedi Felix: Melden Sie sich an und verpassen Sie diese grossartige und nachhaltige Gelegenheit nicht!

Jonas Schönenberger