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21.09.2024

«Velowende für eine lebendige Stadt»

So könnte eine Velowende aussehen.
So könnte eine Velowende aussehen. Bild: zVg Collage: stgallen24
Es gibt kaum eine Stadt, die nicht auf Veloförderung setzt. Doch den Versprechungen folgen vielfach wenig Taten, kritisieren Experten. Statt eine Velostadt mit einem Fahrradanteil von über 30 Prozent anzustreben, würden Planung und Politik im Alltag immer noch dem Auto den Vorrang geben.

«Wenn von ‹Verkehr› die Rede ist, dann ist in der Regel der Autoverkehr gemeint», kritisiert Michael Liebi, Dozent für Raum- und Verkehrsplanung an der OST – Ostschweizer Fachhochschule und Mobilitätsexperte bei der Fachstelle Fuss- und Veloverkehr der Stadt Bern. «Das schnelle Autofahren und das Parkieren gelten als Grundbedürfnis, während das Velo als Zusatz gesehen wird.»

Das sei falsch: «Wer es mit Nachhaltigkeit ernst meint, muss Prioritäten setzen.» OST-Experte Liebi hat deshalb ein engagiertes Buch geschrieben – zusammen mit Patrick Rérat (er ist Professor für Mobilitätsgeografie an der Universität Lausanne), Ursula Wyss (sie vertrat die SP im Nationalrat, später prägte sie als Mitglied der Berner Stadtregierung die Veloplanung, heute führt sie ein Büro für strategische Stadtentwicklung) und Christine Lehmann (sie ist seit 2015 Stadträtin in Stuttgart für das Bündnis 90/Die Grünen und deren Radverkehrsexpertin). Das Buch mit dem Titel «Velowende» zeigt praxisnah, wie aus heutigen Autostädten wieder lebenswerte Städte für Menschen werden.

Die drei Velo-V

«In einer Stadt der kurzen Wege mit hoher Dichte und grosser Nutzungsmischung, in der alltägliche Angebote in Fuss- und Fahrraddistanz zu erreichen sind, ist das Velo das geeignete Verkehrsmittel», zitiert Ursula Wyss aus dem Buch. 80 Prozent der Verkehrsräume stünden heute aber ausschliesslich für den Autoverkehr zur Verfügung, während das Velo lediglich drei Prozent beanspruche.

«Die Hindernisse gegen eine Velowende sind in den autoorientierten Jahrzehnten auf Asphalt und Beton gebaut worden. Auch Gesetzgebungen und Normen verhindern, dass sie mit einfachen, rasch umsetzbaren Mitteln korrigiert werden können», so Wyss. Dass dies möglich sei, zeigten die Niederlande und Dänemark.

«Amsterdam war auch nicht immer Amsterdam» 

Die Vorzeigestadt für den Veloverkehr war bis in die 1970er-Jahre ebenfalls vom Auto geprägt. Doch 1990 entschied sich die Bevölkerung für einen Masterplan zur Velowende.

Dieser gesellschaftspolitische Prozess, «die Veränderung wollen», sei das erste V im Leitmotiv für eine nachhaltige Verkehrspolitik, erklärte Ursula Wyss bei einem Besuch am Velo-Fachkongress «Flink» Anfang Mai 2024 in St.Gallen. Um diesen Prozess anzustossen, empfiehlt die erfahrene Politikerin Visualisierungen, wie Städte mit wenig Autoverkehr aussehen könnten.

Auf grossen Kreuzungen brauche der Veloverkehr ein separates, baulich abgetrenntes und grosszügiges Angebot. Bild: zVg Collage: stgallen24

Sichere Strassen für 8 bis 80

Das zweite V ist dem Thema Vielfalt gewidmet: «Velokultur für alle», fordert Wyss. Dabei gehe es auch um Empowerment. 60 Prozent der Bevölkerung würde gerne Velo fahren, getrauen sich aber nicht, weil sie die Strasse als zu unsicher erlebten.

Ursula Wyss empfiehlt deshalb den «Laura-Test»: «Würden Sie Ihr achtjähriges Kind hier fahren lassen?» Die Antwort könne nur dann Ja lauten, wenn die Routen nicht nur sicher, sondern auch Fehler verzeihend, intuitiv zu nutzen und vertrauenserweckend seien. Dies gelte auch für ältere Menschen – deshalb verwende man in der Verkehrsplanung auch die «8-80-Formel».

Mehr Platz fürs Velo macht den Verkehr flüssiger

Das dritte V schliesslich ist der Verantwortung gewidmet, der velofreundlichen Infrastruktur. OST-Experte Michael Liebi macht ein Beispiel: «Eine Untersuchung der Stadt Kopenhagen zeigt, dass mit der Verbreiterung eines Radweges zulasten einer Autospur eine insgesamt höhere Transportkapazität der Strecke erreicht werden konnte. Flächen zugunsten des Veloverkehrs erhöhen also nicht nur die Sicherheit und die Lebensqualität, sondern tragen auch zur Effizienzsteigerung bei.»

Für das Autorenteam ist deshalb klar: «Das Velo ist ein wichtiger Teil der Lösung unserer Verkehrsprobleme. Velostadt zu werden, bedeutet vor allem eines: die Velofahrer willkommen zu heissen. Dafür braucht es beides: grosse Gesten, aber auch kleine Details. Und Engagement auf allen Ebenen, von allen Akteuren, denn: Velostadt wird man, wenn man es will.»

Michael Breu/stgallen24